Mexiko-Stadt (dpa) - Rodrigo Silva hält einen Benzinkanister in der Hand, am Boden des Behälters gluckert ein kleiner Rest Treibstoff. Um den Rasenmäher, der vor dem Gärtner steht, komplett zu befüllen, reicht der Inhalt des Kanisters nicht mehr - für einen vollen Kraftstoff-Behälter müsste Silva aber wahrscheinlich lange anstehen.
»Ich kann arbeiten oder vier Stunden in der Warteschlange verlieren«, sagt Silva und startet den Mäher, um das Gras in einem kleinen Garten in Mexiko-Stadt zu kürzen. Seit mehr als einer Woche herrscht in Mexiko Benzin-Knappheit. Der Präsident befindet sich auf Kriegsfuß gegen die berüchtigten »Huachicoleros«, Treibstoff-Diebe.
Weil die Zahl der illegalen Anzapf-Versuche an den Benzin-Leitungen in den vergangenen Jahren massiv gestiegen ist, entschied die Regierung unter Präsident Andrés Manuel López Obrador, das Verteilungssystem zu verändern. Einige der Pipelines wurden geschlossen, der Sprit wird in bewachten Lastern zu den Tankstellen gebracht. Der Transport dauert so länger, bei den Verbrauchern regt sich Unmut über lange Wartezeiten an den Zapfsäulen. Einige Tankstellen mussten sogar temporär ganz geschlossen werden.
Der Handel mit und Schmuggel von gestohlenem Benzin ist in dem lateinamerikanischen Land ein Milliarden-Geschäft für Kriminelle. Der staatliche Mineralölkonzern Pemex verlor nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr rund 60 Milliarden Pesos (etwa 2,7 Mrd Euro). Alle 30 Minuten fand demnach ein illegaler Anzapf-Versuch statt, täglich wurden neun Millionen Liter Benzin gestohlen. Das Anbohren der Leitungen ist nicht ungefährlich. Bei Explosionen an den Pipelines werden mutmaßliche Benzin-Diebe regelmäßig verletzt oder getötet.
Aber die Kraftstoff-Diebe versuchen nicht nur von außen an den Sprit zu kommen - auch innerhalb des staatlichen Mineralölkonzerns gab es über die vergangenen Jahrzehnte wohl Benzin-Diebstahl im großen Stil. Gegen einige ranghohe Pemex-Vertreter laufen Ermittlungen. Rund 5000 zusätzliche Soldaten bewachen nun die Abfertigung der Tanklaster in den Pemex-Raffinerien, deren Transport und die Pipelines. Der 65 Jahre alte Linkspolitiker López Obrador meint es ernst im Kampf gegen die »Huachicoleros« - und fängt sich damit seit seinem Amtsantritt Anfang Dezember die erste große Krise seiner Präsidentschaft ein.
Kritiker werfen der Regierung vor, den Wechsel im Verteilungssystem schlecht geplant zu haben. Vergangene Woche kam es sogar zu Panikkäufen an Tankstellen. López Obrador musste öffentlich beschwichtigen und sprach von einem temporären Engpass. Im Radio rief die Regierung dazu auf, Ruhe zu bewahren. Es sei genügend Benzin im Land vorhanden. Im Golf von Mexiko mussten Tankschiffe mit Import-Sprit warten, weil die Abfüllanlagen bereits voll waren.
In Mexiko werden pro Tag durchschnittlich 122 Millionen Liter Benzin verbraucht. Gut 75 Prozent davon werden importiert. Die Knappheit trifft besonders Transportunternehmen. Auf einem Großmarkt für Früchte und Gemüse berichtet ein Verkäufer, er müsse morgens früher aufstehen, um erstmal nach Benzin an den Tankstellen zu suchen. Dann erst könne er seine Produkte zum Markt bringen und verkaufen.
Es fehle eine ganzheitliche Strategie und ein Zeitplan für die Normalisierung der Benzinversorgung, kritisierte der Oppositionspolitiker Juan Carlos Romero Hicks. Der Kampf gegen den Benzin-Diebstahl sei wichtig, aber es dürfe keine Unzulänglichkeiten im Angebot geben. Präsident López Obrador möchte nach eigenen Angaben mit der Neuaufstellung des staatlichen Mineralölkonzerns und neuen Raffinerien die Versorgung sichern - abblasen will er seinen Kreuzzug gegen Benzin-Diebe nicht. »Wir werden sehen, wer zuerst müde wird«, sagte der Präsident. »Wir werden keinen Schritt zurück machen.«
López Obrador rief zudem die an dem Kraftstoff-Klau beteiligten Bürger auf, damit aufzuhören. Von Bürgermeistern der Gemeinden, durch die die Pipelines verlaufen, über Polizisten, Mitglieder von organisierten Kartellen bis hin zu Pemex-Mitarbeitern - sie alle sind verwickelt. Manche Tankstellen kauften lieber gestohlenes und dafür günstigeres Benzin. Über Tankstellen, die seit der Verteilungsänderung aus Spritmangel schließen mussten, wird nun in sozialen Netzwerken gemunkelt, dass sie all die Jahre nicht direkt von Pemex, sondern von den Dieben ihre Lieferungen bekamen.
»Es ist wie eine Krebserkrankung. Und der Krebs hat sich ausgebreitet«, sagt die Autorin Ana Lilia Pérez, die mehrere Bücher über den Benzin-Diebstahl in Mexiko und die Verwicklung von Pemex geschrieben hat, in einem Fernsehinterview. Sie erklärt, dass nur 20 Prozent des gestohlenen Kraftstoffes illegal an den Pipelines abgezapft werden. Der Großteil werde innerhalb des Mineralölkonzerns entwendet, mitunter in Benzinlastern mit falschen oder doppelten Abrechnungen. Pemex hingegen erklärte, 2017 seien täglich etwa 58 000 Barrel gestohlen worden. Davon 43 000 Barrel durch das Anzapfen der Pipelines und nur 15 000 Barrel in Pemex-Anlagen.
Pérez brachte sich mit ihren Nachforschungen auch selbst in Gefahr. Die Autorin musste wegen Drohungen eine Zeit lang ins Exil nach Deutschland fliehen. Derzeit lebt sie an einem unbekannten Ort. Sie ist sicher: »Der Feind von Pemex sitzt im (eigenen) Haus.«
Wann der Benzin-Engpass völlig ausgestanden ist, ist noch unklar. Experten zweifeln daran, ob der Transport in Tanklastern langfristig eine gute Alternative zu den Überlandleitungen ist. Denn der Transport in Fahrzeugen ist Schätzungen zufolge zehn bis 15 Prozent teurer als mit Pipelines. Einen Vorteil hat die Kraftstoff-Knappheit zumindest für die Hauptstadt: Die sonst dick wabernde Smog-Glocke über Mexiko-Stadt ist derzeit ein wenig dünner. (dpa)