Mehrere Millionen Pfund Beute, Fingerabdrücke an einem Monopoly-Brett und Flucht an die Copacabana: Der legendäre Postraub »Great Train Robbery« in Großbritannien jährt sich am 8. August zum 60. Mal. Die Geschichte ist zum Stoff von Filmen, Songs und Hörspielen geworden.
Eine Bande von 15 Kriminellen legt sich an dem Tag im Jahr 1963 nach minuziöser Planung an einer Eisenbahnbrücke in der Grafschaft Buckinghamshire auf die Lauer. Ihr Ziel: Der Postzug von Glasgow nach London. Die Räuber haben in Erfahrung gebracht, dass darin säckeweise Banknoten transportiert werden. Deren Wert wird in heutiger Kaufkraft auf 45 bis 60 Millionen Pfund geschätzt.
Der Raub wird zur Legende - wie bei Robin Hood
Der Trick ist denkbar einfach. Die Verbrecher manipulieren die Signalanlage. Das grüne Licht wird überdeckt und stattdessen das rote Stopp-Signal mithilfe einer Batterie zum Leuchten gebracht. Der Lokführer bringt den Zug zum Stehen. Jetzt schlagen die Gangster zu. Der Lokführer wird mit einem Schlag auf den Kopf überwältigt. Dann laden sie die Säcke in bereitgestellte Fluchtfahrzeuge und machen sich davon. Ein alter Bauernhof nicht weit vom Tatort dient ihnen als Versteck - dort teilen sie die Beute auf.
Der gelungene Coup wird schnell zur Legende. Trotz des skrupellosen Vorgehens - der verletzte Lokführer erholt sich nie wieder von den psychischen Folgen des Überfalls - genießen die Räuber bald eine Art Robin-Hood-Status, wie Steve Gaskin im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur sagt. Der frühere Scotland-Yard-Detective führt Besucher bei Pub-Abenden durch die Geschichte des »Great Train Robbery«. Die Star Tavern im Londoner Stadtteil Belgravia, so ist Gaskin überzeugt, war früher ein Treffpunkt der Zugräuber.
Die Story von den - teilweise sehr gut aussehenden - tollkühnen Räubern macht auch in Deutschland Schlagzeilen. Schon drei Jahre nach der Tat läuft im deutschen Fernsehen eine dreiteilige Fernsehserie mit dem Titel »Die Gentlemen bitten zur Kasse«. Die Rolle des Masterminds Bruce Reynolds - allerdings unter anderem Namen - spielt Horst Tappert, der später vor allem durch die Serie »Derrick« in Erinnerung geblieben ist. Auch Hörspiele werden produziert. Zum 50. Jahrestag sendet die BBC eine zweiteilige Neuverfilmung.
Mehrere Verurteilte können aus dem Gefängnis fliehen
Für die meisten Räuber währt die Freude über den Geldsegen nicht sehr lange. Zwölf von ihnen werden schon bald gefasst und teilweise zu bis zu 30 Jahren Haft verurteilt. Zu ihrer Ergreifung führen unter anderem Fingerabdrücke an einem Monopoly-Spielbrett, das sie an ihrem Versteck zurücklassen. Doch es ist auch eine Geschichte von Verrat und teils undurchsichtigen Verbindungen zwischen Polizei und Unterwelt. Der größte Teil des Geldes taucht nie wieder auf.
Mehreren Verurteilten gelingt später die Flucht aus dem Gefängnis. Berühmtheit erlangt dabei vor allem Ronnie Biggs. Der spielt beim eigentlichen Raub nur eine kleinere Rolle - trotzdem bekommt er 30 Jahre Haft aufgebrummt. Doch schon 1965 gelingt ihm der Ausbruch. In Paris unterzieht er sich einer Gesichtsoperation. Zunächst flieht er mit seiner Familie nach Australien. Als ihn die Behörden dort aufspüren, zieht er alleine weiter nach Brasilien.
Ronald Biggs spielt mit den Toten Hosen Fußball
In Rio de Janeiro baut sich Biggs das Image eines Lebemanns auf, der Cocktail trinkend der britischen Obrigkeit den Stinkefinger zeigt. Das macht ihn zum Symbol der Punk-Bewegung. Die Sex Pistols nehmen 1978 mit ihm den Song »No One Is Innocent« auf. Anfang der 80er Jahre wird er von ehemaligen britischen Soldaten entführt und auf die Bahamas gebracht. Doch mangels Auslieferungsabkommen darf er wieder nach Brasilien zurückkehren.
Vom Rebellen-Image des Posträubers Biggs lassen sich sogar die Toten Hosen inspirieren, die 1991 den gemeinsam mit Biggs aufgenommenen Song »Carnival In Rio« veröffentlichen. Im Musikvideo sind Campino und Co. mit Biggs Fußball spielend und zechend an der Copacabana zu sehen.
Gitarrist Michael Breitkopf (»Breiti«) bleibt mit Biggs bis zu dessen Tod befreundet. Im dpa-Gespräch vor einigen Jahren sagt er, der Brite habe sich vor allem in die Öffentlichkeit gedrängt, weil er in Brasilien nicht arbeiten durfte. »Dadurch sah es nach außen immer so aus, als würde er den britischen Behörden noch zusätzlich dazu, dass sie nicht an ihn rankamen, den Stinkefinger hinhalten.« Kurz nach Biggs Tod hatte er dem »Spiegel« aber erzählt, der Brite habe natürlich auch die Ader zur Provokation gehabt. »Für einen blöden Spruch war er immer zu haben.«
Er kehrt freiwillig nach England zurück
Obwohl er in Brasilien in Sicherheit vor dem Zugriff der britischen Polizei war, kehrte Biggs 2001 in seine Heimat zurück. Doch die Hoffnung, man könne ihn begnadigen nach all den Jahren, ging nicht auf. Für Ex-Polizist Gaskin kein Wunder. Die Reaktion unter Polizisten auf den von Biggs geäußerten Wunsch, einfach mal wieder im Pub in England ein Bier zu trinken, sei gewesen: »Der einzige Ort, an den du gehen wirst, Kumpel, ist das Gefängnis«, erinnert sich Gaskin und fügt hinzu: »Was uns betraf, waren das organisierte Verbrecher.«
So kam es auch: Biggs wurde direkt nach seiner Ankunft verhaftet und erst 2008 - längst schwer krank - aus der Haft entlassen. Gelohnt, so resümiert Gaskin, habe sich der Raub wohl für kaum einen der Beteiligten.
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