Auch Tage nach den tödlichen Schüssen aus einer Polizei-Maschinenpistole auf einen 16-Jährigen wird heftig über den Fall diskutiert. Was darüber inzwischen bekannt geworden ist - und was nicht:
Was ist passiert?
Am Montagnachmittag wurde die Polizei zu einer Jugendhilfeeinrichtung im Dortmunder Norden gerufen, wie es von der Staatsanwaltschaft hieß. Ein Betreuer hatte wegen eines mit einem Messer bewaffneten Jugendlichen den Notruf gewählt. Elf Polizisten waren letztendlich vor Ort, einer von ihnen schoss mit einer Maschinenpistole auf den 16-Jährigen, nachdem dieser die Beamten angegriffen haben soll. Er gab sechs Schüsse ab, fünf davon trafen den Jugendlichen: in den Bauch, in den Kiefer, in den Unterarm und zweimal in die Schulter. Er starb im Krankenhaus. Laut Staatsanwaltschaft gibt es keine Hinweise auf verletzte Polizisten.
Wer ist der Getötete?
Ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus dem Senegal. Er war der Jugendhilfeeinrichtung kurz vorher zugeteilt worden. Vor dem Polizei-Einsatz war er noch in einer Psychiatrie gewesen. Er habe sich wegen psychischer Probleme selbst dorthin begeben, sagte der zuständige Oberstaatsanwalt Carsten Dombert. Der 16-Jährige soll nicht gut Deutsch gesprochen haben. Ob das beim Einsatzgeschehen eine Rolle spielte, muss noch ermittelt werden. Die »Ruhr Nachrichten« zitierten Anwohner: Er sei ein schmächtiger, schüchterner Junge gewesen. »Er hat schon gezittert, wenn er bei mir bestellt hat. Der hatte Angst vor Menschen«, wird der Inhaber einer Pizzeria zitiert.
Was wollte der Jugendliche mit dem Messer?
Was er ursprünglich damit vorhatte - ob er sich selbst oder auch andere verletzen wollte - ist nach Angaben der Ermittler noch unklar. Es stünden suizidale Absichten im Raum, sagte Oberstaatsanwalt Dombert.
Wer ist der Schütze?
Ein 29 Jahre alter Polizist. Laut Staatsanwaltschaft wird gegen ihn wegen des Anfangsverdachts der Körperverletzung mit Todesfolge ermittelt. Zur Frage, wie intern damit umgegangen wird und ob er weiter im Dienst ist, machte die Polizei Dortmund keine Angaben.
Wie laufen die Ermittlungen?
»Das ist ohne Frage ein sehr sensibles Verfahren«, sagte Oberstaatsanwalt Dombert. Man müsse sorgfältig vorgehen, bevor man Fragen abschließend beantworte. Insbesondere die zentrale Frage - wie es sein kann, dass eine Drohung oder ein Angriff mit einem Messer mit mehreren Schüssen aus einer Maschinenpistole erwidert wird - ist noch nicht beantwortet. Die Ermittler erhoffen sich Erkenntnisse von den Befragungen von drei Betreuern der Einrichtung und der beteiligten Polizisten. Ob und wie sich der beschuldigte Polizist geäußert hat, teilte die Staatsanwaltschaft nicht mit. Unklar ist auch noch, ob die MP5, die in NRW in jedem Funkstreifenwagen zur Ausrüstung gehört, beim Feuern auf Automatik oder Einzelschuss eingestellt war.
Worüber wird diskutiert?
Am Abend nach dem Einsatz gab es in Dortmund eine Demonstration aus dem linken Spektrum, auch in den Sozialen Medien wurde der Einsatz heftig kritisiert. Dabei geht es um den Vorwurf der Polizeigewalt und insbesondere um die Tatsache, dass die Polizei einen schwarzen Jugendlichen erschoss. Bei den Ermittlungen gebe es keine Hinweise darauf, dass die Hautfarbe des 16-Jährigen beim Einsatz eine Rolle gespielt hätte, sagte Oberstaatsanwalt Dombert. »Und ich möchte auch annehmen, dass das aus Sicht der Polizei keine Rolle spielt.«
Wie ist die Rechtslage beim polizeilichen Schusswaffeneinsatz?
Aus dem NRW-Innenministerium hieß es mit Verweis auf das Polizeigesetz, Schusswaffen dürften gegen Personen nur eingesetzt werden, um etwa eine Gefahr für Leib oder Leben abzuwehren und wenn »andere Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges erfolglos angewendet wurden oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen«. Die Polizisten in Dortmund hatten vor den tödlichen Schüssen Reizgas und zweimal ein Elektroschockgerät - einen sogenannten Taser - eingesetzt. Auf kurze Distanzen sei bei Messerangriffen die Gefahr lebensgefährlicher Verletzungen für Polizisten sehr wahrscheinlich. »Daher ist der polizeiliche Schusswaffengebrauch oftmals das einzige Mittel, um den Angriff abzuwehren«, hieß es. Geschossen werde dann so lange, »bis eine erkennbare Wirkung eintritt und die Angriffsbewegung unterbrochen wird«. Das könne auch mehrere Treffer erfordern.
Hätte der Jugendliche nicht auch anders gestoppt werden können?
Das martialische Auftreten von elf Polizisten mit der automatischen Waffe mache sehr wohl einen Unterschied, weil es bei einem Menschen - vor allem wenn er kein Deutsch verstehe - den Eindruck eines Angriffs erwecke, sagte der Bochumer Kriminologe Thomas Feltes. »Bei solchen Einsätzen sollte immer ein Psychologe oder Psychiater dabei sein.« Feltes fragt: »Warum wurde dort eine Maschinenpistole eingesetzt? Das ist überhaupt nicht nachvollziehbar.« Diese sei vor allem für Amoklagen gemacht, nicht für Einsätze gegen psychisch auffällige Jugendliche. Auch der Kriminologe Rafael Behr sagte, der Einsatz der Maschinenpistole sei ungewöhnlich. »Das ist absolut nicht üblich, in solchen Fällen ein solches Gerät mitzuführen«, sagte er dem WDR. Laut NRW-Innenministerium ist die MP5 für weitere Distanzen besser geeignet als die Pistole, die in der Regel in der Nahdistanz eingesetzt werde.
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