Vier von fünf Pflegebedürftigen in Deutschland werden laut Statistischem Bundesamt zu Hause versorgt, meist durch pflegende Angehörige. Diese sind nicht selten überlastet. Es kann zu Konflikten bis hin zu Gewalt kommen.
In Kassel wurde gerade ein 71-Jähriger zu vier Jahren Haft verurteilt, weil er aus Überforderung seine schwerkranke pflegebedürftige Ehefrau mit einem Kissen erstickt hatte. »Die Belastung für pflegende Angehörige kann generell sehr hoch werden und dann auch zu solchen Situationen führen«, sagt Ludwig Frölich, Vorstandsvorsitzender des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) Hessen.
Viele von ihnen empfänden eine hohe moralische Verpflichtung, sähen sich an ein Versprechen gebunden oder könnten nicht abgeben. »Auch Scham spielt eine Rolle. Was sagen die Nachbarn, wenn man sich Hilfe holt oder jemanden ins Heim gibt?«, ergänzt Andrea Roth, Geschäftsführerin ASB Wohnen und Pflege in Hessen. Nicht selten herrsche auch finanzieller Druck. »Eine Unterbringung im Heim oder Pflegeleistungen zu Hause kann sich nicht jeder leisten.«
Corona hat neue Probleme gebracht
Die Corona-Pandemie habe die Situation für die Pflegenden noch verschärft. »Die Angst vor Ansteckung hat zu einem zögerlichen Verhalten gegenüber Angeboten geführt«, sagt Roth. Viele hätten lieber allein zu Hause gepflegt, auch bis zur Belastungsgrenze. Wichtig sei, die Betroffenen aufzuklären und zu unterstützen. Sie zu erreichen, gestalte sich aber manchmal schwierig. Roth plädiert daher für eine aufsuchende Beratung und wohnortnahe Kompetenzzentren.
Auch Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, fordert eine aufsuchende staatliche Fürsorge in den Kommunen. Da selbst vorhandene Angebote wie die Kurzzeitpflegeplätze in Deutschland Mangelware seien, sei zudem ein durchsetzbarer Rechtsanspruch auf Kurzzeit-, Tages- und Verhinderungspflege unumgänglich. Für die rund 700.000 pflegenden Berufstätigen fordert er darüber hinaus eine staatlich finanzierte Lohnersatzleistung ähnlich des Elterngeldes. »Das hilft ihnen, Beruf und Pflege miteinander zu vereinbaren.« Die Bundesregierung sei gefordert, die staatlichen Leistungen dem tatsächlichen Bedarf anzupassen.
Eine bessere finanzielle Absicherung berufstätiger Pflegender wünscht sich auch Frank Schumann vom Berliner Verein »wir pflegen«, der die Interessen pflegender Angehöriger vertritt. Außerdem brauche es weniger Bürokratie und einen offeneren Umgang mit dem Thema Pflege. »Darüber wird allenfalls im engsten Familienkreis gesprochen.«
Nicht überall in Deutschland gibt es ausreichend Hilfe
Pflegende verschwiegen die Belastungen oft. »Wenn ich darüber rede, wirft das ein negatives Bild auf mich persönlich. Dann wirke ich schwach und unfähig«, erklärt der Krankenpfleger, der selbst lange pflegender Angehöriger war. Auch werde Hilfe nicht angenommen, weil die Betroffenen anderen nicht zutrauten, sich genauso gut und liebevoll um den Angehörigen zu kümmern. Außerdem gebe es viele Regionen in Deutschland, in denen nicht die ganze Bandbreite an Unterstützungsangeboten zur Verfügung stehe.
»Es muss etwa passieren«, sagt auch Ludwig Frölich. Denn die Zahl pflegebedürftiger Menschen in Deutschland wird laut jüngstem Barmer-Pflegereport in den kommenden Jahren rasant steigen. Sind demnach derzeit rund 4,5 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig, werden es im Jahr 2030 bereits rund sechs Millionen Menschen sein. »Es wird verkannt, was auf die Gesellschaft zukommt«, betont Frölich.
Bereits jetzt bestehe extremer Fachkräftemangel in der Pflege. Außerdem müsse in Schulungen investiert werden, damit das Personal Angehörige speziell beraten könne. »Unser Ziel ist, das System so zu verändern, dass mehr Zuwendung und persönliche Beratung für pflegende Angehörige möglich ist.« Die Politik sei gefordert, dafür das nötige Geld zur Verfügung zu stellen. Auch sei es sinnvoll, Pflege schon in der Schule zu thematisieren.
Auch viele Jugendliche müssen pflegen
Und das nicht nur vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels, wie eine Studie der Universität Witten-Herdecke im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums zeigt. Ihr zufolge versorgen und pflegen rund 479.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland substanziell und regelmäßig Angehörige. »Sie unterscheidet von Erwachsenen, dass sie keine Wahlfreiheit haben«, erklärt Studienleiterin und Pflegewissenschaftlerin Sabine Metzing.
Kinder rutschten in die Rolle des Pflegenden oft hinein. »Das sind schleichende, stetige Verläufe. Sie übernehmen immer mehr von dem, was anfällt.« Kippen würde die Situation dann, wenn sie nicht nur bei der Pflege helfen würden, sondern für sie verantwortlich seien. Die betroffenen Familien wollten oft aus Angst vor Vorwürfen nicht über die Situation sprechen.
Pflegende Kinder und Jugendliche zögen sich häufig zurück, ließen in ihrer schulischen Leistung nach, hätten vermehrt Fehlzeiten. »Sie fühlen Ängste, Trauer und Scham und werden nicht selten in der Schule gehänselt«, berichtet Metzing aus ihrer Forschung. Sie litten zudem oft an Schlafstörungen, Kopfschmerzen und emotionaler Erschöpfung. Aber es gebe auch positive Effekte: Neben einer sehr starken Familienbindung sagten die Betroffenen auch, sie seien stolz auf ihre Fähigkeiten und erführen Anerkennung.
»Insgesamt stellt die Situation dennoch eine große emotionale Belastung dar.« Es brauche eine zentrale Anlaufstelle, die die gesamte Familie im Blick habe, sagt Metzing. »Eine familienorientiert agierende Beratungsstelle, die bei Bedarf schnell alltagspraktische Hilfe leisten kann.«
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