Schwaben sind im Allgemeinen dafür bekannt, dass sie äußerst kreativ werden, wenn es ums Sparen geht. Das ist von Vorteil im Land der Eidgenossen, denn wer dort wandern will, denkt möglicherweise darüber nach, sich die hart eingezahlte Lebensversicherung vorzeitig auszahlen zu lassen. So weit muss es nicht kommen, wenn mit Rolf Wizgall ein »Cleverle« als Chef-Planer des Reutlinger Alpenvereins die viertägige Wanderreise plant.
Im Programm – der ursprünglich für 2020 geplanten Ausfahrt – verbindet er kurzerhand die Schweiz mit dem italienischen Colico als Reiseziel, einer hübschen Stadt im Nordosten des Comer Sees. Auf der Anfahrt und an einem weiteren Tag liegen die Schweizer Touren nur rund eineinhalb Stunden entfernt von den Stützpunkt-Hotels über der Grenze – das spart Übernachtungskosten.
Zu diesen attraktiven Destinationen brechen 58 Bergfreunde auf. Die Fahrt zu dem oberitalienischen See wird so gelegt, dass sich der sportlich ambitionierte Teil der Gruppe für die Auftaktwanderung an der Julierpass-Straße die Wanderschuhe schnürt. Diese Bergfreunde nehmen 14 Kilometer in Angriff und gehen dazu auf das letzte Teilstück der »Via Engiadina« – einem Weitwanderweg in zehn Etappen. Die übrigen Wanderwilligen starten auf dem gleichen Weg ab Föglias bei Sils. Sie haben bis zum Tagesziel in Maloja neun Kilometer vor sich.
Bei nahezu idealen Bedingungen punktet das Oberengadin mit fast allem, was es aufzubieten vermag: Ausblicke auf den Piz Bernina, mit seinen 4 049 Metern der einzige Viertausender der Ostalpen, den Biancograt und den Piz Corvatsch. Respekt einflößende Gesteinsfelder, bei denen die Wanderer automatisch leiser werden, um nur ja den viel zitierten Stein nicht ins Rollen zu bringen. Am Aussichtspunkt »Plaz« geht der Blick über den Silsersee – was für eine Szenerie! Blühende Bergwiesen wie im Bilderbuch, die abwechslungsreiches Grünfutter liefern für Kühe mit Glocken oder schottische Hochlandrinder mit enorm ausladenden Hörnern. Heidi-Dorf GrevasalvasKurz darauf tut sich die Landschaft erdgeschichtlich auf – dicke Felsbrocken, hübsch verstreut, laden ein zur Vesperpause. Im nächsten Moment geht es an einer spektakulären Wand mit Gesteinsschichten vorbei – und wenig später fällt der Blick auf ein Dorf, in dem die Kinderbuch-Heldin Heidi mit dem Geißenpeter und dem Großvater gut hätten leben können. Grevasalvas entlockt den Wanderern entzückte Ausrufe, wie auch der Weiler Pila, mit besonderer alpiner Architektur. Der Ab-stieg nach Maloja erfordert nach all den Eindrücken noch mal Konzentration, der ausgetretene Wiesenpfad schlängelt sich hin und her.
Schnell wird es ruhig im Bus auf dem Weg nach Colico. Kein Wunder, bei früher Abfahrt entsprechend wenig Schlaf, bei rund 1 000 Höhenmetern und so vielen Impressionen. Angekommen, verteilt sich die Gruppe auf zwei Hotels – das ist nicht ganz ideal, lässt sich jedoch nicht anders lösen, denn die Reisenden brauchen eine stattliche Zahl an Einzelzimmern und die Herbergen am Comer See sind eher klein dimensioniert. Die Tourenbegleiter teilen sich auf, neben Rolf Wizgall sind Karl-Heinz Griesinger, sein Sohn Markus, Martin Wessely und Karin D’Ettore dabei. Das eingespielte Team stimmt sich untereinander ab und informiert die Mitgereisten. Karin D’Ettore spricht italienisch, und noch im Bus wird temperamentvoll telefoniert, mal mit dem einen, mal mit dem anderen Empfangsteam.Dann eben Plan BEinsparungen bedingen auch eine Umplanung für die erste Wanderung am Comer See. Waren ursprünglich zwei kleinere Busse vor Ort angedacht, um je 29 Personen zu chauffieren, hat sich der Preis für diesen Service binnen zwei Jahren verdreifacht!
Plan B bedeutet, alle fahren mit dem Zug nach Varenna. Der Comer See ist mit 410 Metern der tiefste See Europas, entsprechend steil geht es an seinen Hängen hinauf, die Landschaft ist Fjord-ähnlich.
Das Castello di Vezio liegt in einer prächtig gepflegten Parkanlage, Wehrgang und Turm werden erkundet und verleiten den Ältesten der Wandergruppe zum spontanen Vortrag eines Gedichtes mit ritterlichem Bezug, das er unter Applaus vorträgt. Bei der Aussicht von der Anlage auf den Comer See erkennen die Besucher, wie sich der See nach Süden hin in zwei Arme teilt. Es ist deutlich heißer, ein wenig schwül und im Auf und Ab der Wanderung wird es für manche anstrengend. So entscheiden sich einige für die Rückfahrt mit dem Zug ab Bellano. Diejenigen, die länger gehen wollen, schließen sich Wizgall für weitere Kilometer bis Dervio an und fallen einigermaßen erschöpft in die Sitze der Bahn zurück nach Colico.
Auf der zweiten Schweizer Wanderung an Tag drei gibt es nur eine Route und die führt auf der »La Panoramica« im Kanton Graubünden von Casaccia nach Soglio: 17 Kilometer, rund fünfeinhalb Stunden Gehzeit, 450 Meter im Auf- und 800 Meter im Ab-stieg, so die Eckdaten. Diese Herausforderung empfiehlt sich nicht für alle, die mitgekommen sind – glücklicherweise bieten sich fußläufig die Erkundung eines Vogelschutzgebiets oder eines Kastells an. Mit dem Bootsanleger vor dem Hotel lässt es sich prima über den See schippern oder man nimmt ein Bad im selbigen.
Die übrigen machen sich auf den Weg. Hat die Landschaft am Silvaplana-See an Kanada erinnert, so denkt mancher auf dem Weg an Neuseeland, hier hätten Szenen für »Herr der Ringe« gedreht werden können. Die Grate der Bergeller Berge, vor allem der markante Piz Badile (3 308 Meter) hat etwas Einschüchterndes. Die Wanderung endet im Bergdorf Soglio, das einst vom Maler Giovanni Segatini, einem Meister der Darstellung des Hochgebirges, überschwänglich als »Schwelle des Paradieses« bezeichnet wurde. In den Augen der Mitgereisten hält es diesem Anspruch stand. Allzu schnell kommt der kleine Schweizer Postbus, der die Bergfreunde in zwei Fahrten ins Tal bringt.
In Como steigen am Abreisetag alle gemeinsam in die Funicolare, einer berühmten Standseilbahn, um ihre letzte Wanderung in Brunate zu starten. Nach deren Bau um 1894 fuhren damals gut betuchte Touristen hinauf auf den »Balkon der Alpen«. Von Brunate reicht der Weitblick bei guten Bedingungen auf die vergletscherten Viertausender rund ums Monte-Rosa-Massiv.
Durch die hohen Temperaturen der letzten Tage ist es dafür zu diesig, also schaut man eben auf mondäne Villen entlang des Weges. Diese Tour führt über zwölf Kilometer hoch über dem Seeufer auf bewaldeten Wegen bis an den Hafen von Torno. Einen letzten italienischen Cappuccino genießen, ein Gelato schlotzen, auf vier schöne Wandertage bei einem Aperol Spritz oder einem Bier anstoßen – das Leben kann so schön sein! Mit erfrischender Seefahrt auf einer kleinen Fähre landet die Gruppe in Tavernola, wo sie der Bus aufnimmt, zurück nach Reutlingen. Schön war’s, traumhafte Landschaften, darin sind sich alle einig – und wer weiß, mit den ganzen Ersparnissen kehren sie vielleicht zurück und erkunden diese Region individuell. (GEA)