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Aktuell Interview

Wie man als Kreml-Kritiker in Baden-Württemberg lebt

Regimegegner Alexey Gresko kämpft im deutschen Exil für politische Gefangene und gegen Kriegstreiber Putin.

Alexey Gresko auf einer Demonstration für die Freilassung von Kreml-Kritiker Alexey Nawalny Anfang dieses Jahres in München.
Alexey Gresko auf einer Demonstration für die Freilassung von Kreml-Kritiker Alexey Nawalny Anfang dieses Jahres in München. Foto: Alexey Gresko
Alexey Gresko auf einer Demonstration für die Freilassung von Kreml-Kritiker Alexey Nawalny Anfang dieses Jahres in München.
Foto: Alexey Gresko

FREIBURG. Putin ist nicht sein Freund, Nawalny schon. Für den Kreml-Kritiker hat Alexey Gresko 2020/2021 den Wahlkampf in Jekaterinburg geleitet. Dafür würde er in Russland verhaftet. Darum ist er nach Deutschland geflohen. Hier setzt er seinen Kampf gegen das Regime fort. Im GEA-Interview spricht der Oppositionelle über den Ukraine-Krieg, Exil-Russen und Putins Ende.

GEA: Wie viele Russen sind seit Kriegsbeginn nach Deutschland geflüchtet?

Alexey Gresko: Seit Beginn des Ukraine-Kriegs haben laut verschiedener Schätzungen bis zu eine Million Russen ihr Land verlassen, das ist etwa ein Prozent der Bevölkerung. Die wenigsten davon sind nach Deutschland gegangen. Denn für Russen gibt es hier keine speziellen Aufnahmeprogramme im großen Stil wie beispielsweise für Ukrainer. Was es gibt, sind humanitäre Visa: Rund 1.800 Stück wurden an Regimegegner, also etwa politische Aktivisten und kritische Journalisten, ausgegeben. Für diese Menschen ist die staatliche Zensur schärfer geworden, Kommentare in sozialen Medien werden mit langer Haft bestraft. Das dient zur Abschreckung: Das Regime will Kritiker aus dem Land vertreiben, um die restliche Bevölkerung leichter zu kontrollieren. Humanitäre Visa gab es aber bereits vor dem Krieg. Ich selbst bin im Juli 2021 als politischer Aktivist mit einem humanitären Visum nach Deutschland geflüchtet, nachdem das russische Regime die Gruppe um Kreml-Kritiker Alexey Nawalny im Frühjahr als extremistische Organisation eingestuft hatte. Seitdem droht mir in Russland Gefängnis.

Von den russischen Männern, die nicht in den Krieg gegen die Ukraine ziehen wollen, gehen nur wenige nach Deutschland. Denn die Einberufung in die russische Armee wird nicht als Asylgrund anerkannt. Für diese Männer gibt es keine legalen Wege nach Deutschland. Sie können zwar mit einem Touristenvisum einreisen, das läuft aber schnell ab. Stattdessen sind sie in Länder geflohen, wo sie kein Visum und keinen Reisepass brauchen, wo der russische Personalausweis reicht. Das sind vor allem Kasachstan, Georgien, Armenien, Usbekistan und die Türkei. In Europa gibt es nur wenige Länder, wo sich Russen legal aufhalten können. Dazu gehören Spanien und Portugal, dort leben jetzt einige meiner Bekannten.

»Das ist nicht unser Krieg. Das ist Putins Krieg. Er hat ganz Russland als Geisel genommen«

Wie setzen Kreml-Kritiker ihren Kampf gegen Putin im deutschen Exil fort?

Gresko: Viele russische Oppositionelle haben sich zu Bürgerinitiativen zusammengeschlossen. Die gibt es in mehreren deutschen Städten – auch in Freiburg, wo ich lebe. »Engagiertes Freiburg« startete im Januar 2021 mit Kundgebungen für die Freilassung von Alexey Nawalny und anderer politischer Gefangener. Seitdem mit Kriegsbeginn ukrainische Flüchtlinge kommen, helfen wir auch ihnen. Wir haben ein Lager mit gespendeten Kleidern eingerichtet, bei Behörden, Banken und Ärzten übersetzt und Sprachkurse organisiert. Wir haben Stadtführungen für Erwachsene und Ausflüge für Kinder angeboten, um etwas Normalität in ihr Leben zurückzubringen. Und wir haben Kundgebungen gegen den Ukraine-Krieg veranstaltet. Es ist wichtig, dass Russen im Ausland, wo sie nicht vom Kreml bedroht werden und ihre Meinung frei äußern können, klar sagen: Das ist nicht unser Krieg. Das ist Putins Krieg. Er hat ganz Russland als Geisel genommen. Dann gibt es Journalisten, die auf Youtube oder Telegram kritisch über Putin und den Krieg berichten. Sie publizieren in russischer Sprache, um Menschen in Russland und den früheren Sowjetstaaten, aber auch Russen in Deutschland zu erreichen. Die Stiftung für Korruptionsbekämpfung, 2011 von Nawalny gegründet, ruft aktuell Menschen in Russland an. Unter dem Vorwand einer sozialwissenschaftlichen Umfrage lenken die Mitarbeiter das Gespräch auf den Krieg und eine kritische Sichtweise. Das ist nur eines der Beispiele für die Oppositionsarbeit von Russen im Ausland.

Zur Person

Alexey Gresko ist ein russischer Regimegegner. 2020/2021 leitete er den Wahlkampf von Kreml-Kritiker Alexey Nawalny in Jekaterinburg. Dreimal war er in Haft. Als das russische Regime 2021 Nawalnys Team als extremistische Organisation einstufte, flüchtete er nach Deutschland. Hier tritt er bei Kundgebungen gegen den Ukraine-Krieg auf. Sein Großvater kommt aus der Ukraine, er selbst hat dort drei Jahre gelebt und zuletzt zwei ukrainische Familien bei sich aufgenommen.

Gresko stammt aus der russischen Millionen-Metropole Jekaterinburg. Dort hat er Wirtschaft studiert, anschließend eine Café-Kette aufgebaut und als Verkaufsleiter für Michelin-Reifen im Ural und in Sibirien gearbeitet. Jetzt ist Gresko für die Berliner Photovoltaik-Firma Enpal tätig. Der 49-Jährige lebt mit seiner Frau und den drei Kindern in Freiburg. (GEA)

Was können Regimegegner von Deutschland aus bewirken?

Gresko: Jede Aktion bewirkt etwas, sei sie auch noch so klein. Man muss zuversichtlich bleiben. Aber auch zugeben, dass Russlands Zukunft weniger von Youtube-Videos als vom Kriegsverlauf abhängt. Darum muss der Westen der Ukraine jetzt die effektivsten Waffen geben. Nur wenn die russischen Truppen militärisch geschlagen werden, fällt Putin. Und wenn Putin fällt, fällt das Regime. Denn es ist ganz auf ihn zugeschnitten. Dann hängt es von der Opposition ab, ob sie die Chance nutzt, das Land zur Normalität zurückzuführen.

»Für Russen, die nicht kämpfen wollen, gibt es keine legalen Wege nach Deutschland«

Werden Sie und andere Regimegegner in Deutschland vom russischen Geheimdienst bedroht?

Gresko: Ich fühle mich hier sicher. Ich bin keine so große Nummer. Aber Menschen, die dem Regime gefährlich werden können – zum Beispiel Journalisten mit Millionen Followern – sind in Gefahr. Auf einige russische Journalisten hierzulande hat der Kreml Giftanschläge verübt.

Wie gut ist Ihr Kontakt zu Familie und Freunden in Russland?

Gresko: Kontakt zu halten, ist dank der sozialen Medien kein Problem. WhatsApp und Telegram werden nicht überwacht, man kann frei sprechen. Die meisten meiner Freunde sehen Putin und den Krieg kritisch. Es gibt aber auch Angehörige, die der staatlichen Propaganda glauben. Da muss jeder selbst entscheiden, ob er die Beziehung fortführt. Einige sprechen nur noch über unverfängliche Themen, andere sprechen gar nicht mehr. Kurz nach Kriegsbeginn habe ich jeden Tag mit einem anderen Bekannten geredet. Die Meinungen waren ganz unterschiedlich. Einige Leute waren gut gebildet, im Ausland tätig, weit gereist – und wiederholten trotzdem Putins Propaganda. Andere, einfache Leute verstanden alles, konnten aber nichts tun. Ein Freund in Russland, der früher oft an Kundgebungen teilgenommen hat, sagt jetzt: Ich habe Eltern, eine Frau, drei Kinder. Ich arbeite für eine staatliche Organisation. Wenn ich den Kreml kritisiere, dann verliere ich meinen Job. Das kann ich mir nicht leisten. Außerdem ändert sich dadurch nichts. Reisen nach Russland sind für die meisten Russen ungefährlich. Es sei denn, sie sind Kreml-Kritiker oder Männer im wehrfähigen Alter. Ich würde verhaftet, meine Söhne würden eingezogen. Darum bleiben wir in Deutschland.

Wie ist das Verhältnis zwischen Exil-Russen und Russland-Deutschen?

Gresko: Die meisten Russland-Deutschen, die nach dem Ende der Sowjetunion in den 1990er-Jahren nach Deutschland gingen, kamen nicht aus Russland, sondern aus Kasachstan. Einige fühlen sich immer noch nicht voll integriert, schauen russisches Staatsfernsehen und glauben Putins Propaganda. Die Menschen, die nach Kriegsbeginn in deutschen Städten mit Autokorsos für Putin demonstriert haben, waren meist Russland-Deutsche. Sie taten das aus Überzeugung oder gegen Bezahlung vom Kreml. Aber das ist eine kleine Minderheit. Zwischen Russland-Deutschen und Exil-Russen gibt es keine Spannungen.

Wie ist das Verhältnis zwischen Exil-Russen und Ukrainern?

Gresko: Die Beziehungen sind normal. Man bewertet die andere Person nach ihrem Verhalten, nicht nach ihrer Herkunft. Wenn Ukrainer mich als Regimegegner kennen, dann begegnen sie mir freundlich. Meine Familie und ich hatten zeitweise auch zwei ukrainische Familien bei uns zu Hause aufgenommen. (GEA)

Flucht vor Putins Krieg: Nur wenige Russen kommen nach Deutschland

Die russischsprachige Gemeinschaft in Deutschland umfasst 3,5 Millionen Menschen. Sie stammen aus Russland und anderen früheren Sowjetstaaten. Die meisten kamen als Spätaussiedler nach dem Kalten Krieg in den 1990er-Jahren. Nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs am 24. Februar 2022 sind nur wenige Russen zugezogen. Das liegt daran, dass Deutschland für Russen kein spezielles Aufnahmeprogramm im großen Stil aufgelegt hat wie beispielsweise für Ukrainer. Für sie gibt es nur zwei legale Wege nach Deutschland: Asyl und humanitäre Visa. Beide werden sparsam vergeben.

Die Zahl der Asylanträge von Russen stieg nach Kriegsbeginn schlagartig an. Gingen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 2021 noch 2.314 Anträge ein, waren es 2022 schon 3.862 Anträge und 2023 von Januar bis Oktober ganze 7.629 Anträge. Seit Kriegsbeginn sind 60 Prozent der Antragsteller Männer. 35 Prozent sind im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 45 Jahren. Ob es sich dabei um Kriegsdienstverweigerer und Deserteure handelt, geht aus der Statistik nicht hervor. Die Zahlen legen diesen Schluss aber nahe. Von den Anträgen der kriegstauglichen Männer wurde bisher weniger als die Hälfte (46 %) entschieden und nur 3 Prozent positiv (116). Zwar gilt die Einberufung zum Wehrdienst nicht als Asylgrund, die erzwungene Teilnahme an Kriegsverbrechen laut Europäischem Gerichtshof aber schon. Wegen der geringen Chancen auf Asyl in Deutschland ist die Mehrheit der geschätzt eine Million Russen, die nach Kriegsbeginn ihr Land verlassen haben, in Nachbarländer wie Kasachstan, Georgien und Armenien geflüchtet. Für die Einreise reicht ein russischer Personalausweis.

Anders verhält es sich beim humanitären Visum: Im Mai 2022 haben Auswärtiges Amt und Bundesinnenministerium ein beschleunigtes Aufnahmeverfahren für Russen beschlossen. Vorausgesetzt, sie sind besonders gefährdet wegen ihres Einsatzes gegen das Regime und den Krieg oder für Demokratie und Menschenrechte. In Frage kommen vor allem Oppositionelle, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und Wissenschaftler. Kriegsdienstverweigerung oder Desertation allein reichen nicht als Gründe, nur wenn die Betroffenen sich zusätzlich öffentlich gegen den Krieg oder für Menschenrechte engagieren. Jeder Fall wird einzeln geprüft. Seit März 2022 wurden 1.828 humanitäre Visa erteilt. (GEA)