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Wie der Tübinger Carlo Schmid zum Grundgesetz-Vater wurde

Carlo Schmid war Deutsch-Franzose, Reutlinger Anwalt, Tübinger Professor und Co-Autor des Grundgesetzes. Bei der Ausarbeitung des Entwurfs sollte er eigentlich nicht dabei sein, doch es kam anders.

Carlo Schmid, aufgenommen während des Außerordentlichen SPD-Parteitags 1972 in der Dortmunder Westfalenhalle.
Carlo Schmid, aufgenommen während des Außerordentlichen SPD-Parteitags 1972 in der Dortmunder Westfalenhalle. Foto: Roland_Scheidemann
Carlo Schmid, aufgenommen während des Außerordentlichen SPD-Parteitags 1972 in der Dortmunder Westfalenhalle.
Foto: Roland_Scheidemann

TÜBINGEN. Carlo Schmid, der in Reutlingen als Rechtsanwalt und in Tübingen als Richter und Universitätsprofessor tätig war, gilt als einer der einflussreichsten Väter des Grundgesetzes. Beim Verfassungskonvent vom 10. bis 13. August 1948 in Herrenchiemsee, der den Entwurf für das Grundgesetz ausarbeitete, war er einer von zehn Bevollmächtigten der Länder. Eigentlich sollten hier unabhängige Experten und keine Parteipolitiker den Verfassungsentwurf ausarbeiten, aber es entwickelte sich anders.

Im Parlamentarischen Rat, der im Oktober 1948 im Naturkundemuseum Koenig in Bonn eröffnet wurde, war Schmid dann der SPD-Fraktionsvorsitzende und Vorsitzender des verfassungspolitisch auschlaggebenden Hauptausschusse sowie des Ausschusses für das Verfassungsstatut. Dorthin hatte ihn der Landtag entsandt. Schmid soll angesichts des Versammlungsortes mit ausgestopften Tierpräparaten doppeldeutig bemerkt haben, dass er sich von »hohen Tieren« beobachtet fühle, wobei die präparierten Giraffen, aber auch die Siegermächte gemeint waren. Doch wer war Carlo Schmid, nach dem in Tübingen ein Gymnasium benannt ist?

Carlo Schmid ist 1896 in Perpignan in Frankreich geboren, sein württembergischer Vater war Dozent an der Universität Toulouse, seine Mutter eine französische Adlige. Die Familie zog nach Weil der Stadt um, als Schmid ein Jahr alt war und sein Vater Schulleiter der dortigen Realschule wurde. Seine französische Staatsbürgerschaft legte Schmid 1914 bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs ab, als er eingezogen wurde. Schmid studierte Jura in Tübingen, war anschließend als Amtsrichter und Landgerichtsdirektor, später als Privatdozent an der Uni Tübingen tätig. 1932 leitete er in Münsingen ein Lager des freiwilligen Arbeitsdienstes, mit dem Ziel, arbeitslose Jugendliche vom Nationalsozialismus abzubringen.

»Nach dem Grundgesetz schaffen wir Vereinigte Staaten von Europa«

Während des Krieges wurde Schmid als Reserveoffizier erneut zur Wehrmacht eingezogen und arbeitete als Major im Kriegsverwaltungsrat in Frankreich. Dabei soll er Franzosen vor Vergeltungsmaßnahmen der Wehrmacht bewahrt haben, weshalb ihn die Franzosen nach dem Krieg auch schnell aus der Kriegsgefangenschaft entließen. Der Staatsrechtler wurde beim Aufbau der Nachkriegsordnung in seiner Heimat gebraucht.

Schmid, der eigentlich Karl Johann Martin Heinrich Schmid hieß, änderte nach dem Krieg seinen Vornamen in das italienische Carlo ab, um nicht mit dem nationalsozialistischen Staatsrechtler Carl Schmitt verwechselt zu werden. Schmid stand bereits ab Oktober 1945 an der Spitze der Provisorischen Regierung von Württemberg-Hohenzollern in Bebenhausen und hielt gleichzeitig Vorlesungen an der Universität. Später war er Justizminister unter den CDU-Ministerpräsidenten Lorenz Bock und Gebhard Müller. Schmid übersetzte 1947 Charles Baudelaires Gedichtband »Les fleurs du mal« (Die Blumen de Bösen), außerdem auch Nicolo Macchiavelli und André Malreux, wofür er einen Übersetzerpreis erhielt.

Sitzungssaal des Parlamentarischen Rates. In der ersten Reihe (von links): Walter Menzel, Carlo Schmid, Paul Löbe und Theodor Heuss. Foto: dpa
Sitzungssaal des Parlamentarischen Rates. In der ersten Reihe (von links): Walter Menzel, Carlo Schmid, Paul Löbe und Theodor Heuss.
Foto: dpa

»Schmid ist vielseitig, zu vielseitig, meinen manche seiner Parteifreunde, die seiner Ablehnung aller Dogmatik mißtrauisch gegen überstehen«, schreibt die »Neue Zeitung« im März 1949. Und weiter: »Der vierfache Familienvater brilliert gerne mit Zitaten klassischer französischer Schriftsteller, die keiner mehr kennt, und ist ein blendender Redner und Taktiker, der auch mit seinen politischen Gegnern wie Adenauer auf gutem Fuße steht«. Schmid war mehrfach Minister in Großen Koalitionen mit der CDU.

»Die Sozialdemokraten werden mich auch noch aushalten«

Carlo Schmid sagte über Adenauer, dieser führe den Vorsitz »mit Geschick und Würde«. Staatsphilosophische Diskurse hätten den CDU-Mann nicht interessiert. Auch der FDP-Mann Theodor Heuss sagte, Adenauer habe »nicht ein Komma« am Grundgesetz mitgeschrieben. Adenauer sei es vor allem darauf angekommen, dass das Grundgesetz auf breiter Grundlage und ohne Konflikte mit den Besatzungsmächten zustande kommt. Adenauer ging es um die Macht. Er nutzte den Vorsitz, um sich für seine spätere Kanzlerschaft in Stellung zu bringen. Schmid war es dagegen wichtig, den provisorischen Charakter des Grundgesetzes zu betonen und das Wort Verfassung zu vermeiden.

Carlo Schmid, würdigt die »Neue Zeitung«, verfüge »über eine Eigenschaft, die bei deutschen Politikern besonders selten ist«, nämlich über Humor. »Die SPD wird mich auch noch aushalten«, sagte er. Die Stuttgarter »Wirtschaftszeitung« nennt Schmid »die gewichtigste und neben Adenauer am stärksten hervortretende Figur im Parlamentarischen Rat«. Die Zeitungen zitieren seine Bonmots, etwa, dass die bayrischen Schulbuben gegen handgreifliche Erziehungsmethoden durch ihre Lederhosen immerhin besser geschützt seien als andere deutsche Stämme.

Gemeinsam mit dem CDU-Abgeordneten Hermann von Mangoldt setzt Carlo Schmid das Asylrecht für politisch Verfolgte im Grundgesetz durch. Auch das konstruktive Misstrauensvotum ist seine Idee. Damit will er eine Situation der Unregierbarkeit wie zu Ende der Weimarer Republik ausschließen. Beim Recht auf Kriegsdienstverweigerung setzt sich der Sozialdemokrat Schmid im Verfassungskonvent etwa gegen die Auffassung des späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss (FDP) aus Brackenheim durch, der die Wehrpflicht als »legitimes Kind der Demokratie« betrachtete. Schmid hätte sogar gerne noch einen Artikel »Krieg ist kein Mittel der Politik« ins Grundgesetz eingefügt. Damit scheiterte er, ebenso wie mit dem Mehrheitswahlrecht. Nach dem Grundgesetz schaffen wir Vereinigte Staaten von EuropaTheodor Heuss setzte sich mit seiner Ablehnung von Volksentscheiden und Bürgerbegehren durch, die er als »Prämie für jeden Demagogen« erachtete. Auf Heuss Vorschlag, der bereits während der Beratungen zum Grundgesetz als möglicher Bundespräsident gehandelt wurde, geht auch die Staatsbezeichnung »Bundesrepublik Deutschland« zurück.

Zeitlebens kümmerte sich Carlo Schmid besonders um die deutsch-französische Aussöhnung. Nach der Verabschiedung des Grundgesetzes, kündigte er an, dass dies nur ein erster Schritt zur Schaffung der »Vereinigten Staaten von Europa« sei, die angesichts der Blockbildung von USA und Sowjetunion, die einzige Chance sei, nicht zu Vasallenstaaten der Supermächte zu verkommen. Bereits 1946 konstatierte er, dass das »Schicksal Europas« davon abhänge, dass es sich zu einer »eigenständigen Kraft« entwickle – was seine Parteifreunde allerdings für verfrüht hielten.

Carlo Schmid starb 1979 und wurde mit einem Staatsbegräbnis auf dem Tübinger Stadtfriedhof geehrt. Sein 2019 verstorbener Sohn Martin Schmid war ein bekannter Künstler der Stilrichtung »Neue Figuration« und leitete das Zeicheninstitut der Universität Tübingen. Von ihm stammt das großflächige Wandgemälde »Genesungslandschaft« in der Tübinger Uniklinik.