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Aktuell Organspende

Widersprechen oder zustimmen

Heute entscheiden die Abgeordneten über eine Neuregelung. Zwei Vorlagen und kein Fraktionszwang

Das Herz eines Verstorbenen, das Leben retten soll. Ein Transplantationsmediziner hält in der Pathologie des Südstadt-Klinikums
Das Herz eines Verstorbenen, das Leben retten soll. Ein Transplantationsmediziner hält in der Pathologie des Südstadt-Klinikums Rostock das Herz eines Verstorbenen in den Händen, das kurz zuvor entnommen wurde. Weil der Mangel an Spenderorganen immer größer wird, entscheidet der Bundestag über eine gesetzliche Neuregelung. FOTO: DPA
Das Herz eines Verstorbenen, das Leben retten soll. Ein Transplantationsmediziner hält in der Pathologie des Südstadt-Klinikums Rostock das Herz eines Verstorbenen in den Händen, das kurz zuvor entnommen wurde. Weil der Mangel an Spenderorganen immer größer wird, entscheidet der Bundestag über eine gesetzliche Neuregelung. FOTO: DPA

BERLIN/REUTLINGEN. Das große Thema steht als Punkt eins auf der Tagesordnung: Heute entscheidet der Bundestag über die Neuregelung der Organspende. Die Abgeordneten werden dabei nach Herz und Gewissen entscheiden – die Abstimmung ist freigegeben, es gibt keinen Fraktionszwang. Einem Antrag, die Organspende künftig über eine Widerspruchslösung zu regeln, steht ein Antrag für eine Entscheidungslösung gegenüber. Bei beiden sind die Unterstützer quer durch die Fraktionen zu finden. Die AfD hat einen eigenen Vorschlag eingebracht und lehnt die Widerspruchslösung ab. Sie will die Aufsicht über die Vermittlung von Organen auf eine »unabhängige öffentlich-rechtliche Institution« übertragen.

- Was sind die Kernpunkte der Widerspruchslösung?

Eine Abgeordnetengruppe um Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und den SPD-Fachpolitiker Karl Lauterbach macht sich für eine »doppelte Widerspruchslösung« stark. Sie würde das bestehende Prinzip umkehren, das Organentnahmen nur bei ausdrücklich erklärtem Ja zulässt. Stattdessen soll jeder automatisch Spender sein – man soll dem aber jederzeit widersprechen können und müsste das in einem neuen Register speichern. Vor einer Transplantation müsste ein Arzt dort abfragen, ob es eine Erklärung gibt. Falls nicht und es auch sonst kein schriftliches Nein gibt, ist der nächste Angehörige zu fragen – aber nicht nach einer eigenen Entscheidung, sondern ob er ein Nein oder einen anderen Willen des Verstorbenen kennt.

Geplant ist eine große Informationskampagne für die neue Regelung, außerdem soll jeder ab 16 Jahren dreimal direkt mit Informationen angeschrieben werden. Kommen Minderjährige als Spender infrage, wäre eine Organentnahme nur zulässig, wenn ein Angehöriger zugestimmt hat. Bei Menschen, die die Tragweite einer solchen Entscheidung nicht erkennen können, sollen Organspenden grundsätzlich tabu sein.

- Was sind die Kernpunkte der Entscheidungslösung?

Eine Gruppe um Grünen-Chefin Annalena Baerbock und die Linken-Vorsitzende Katja Kipping schlägt vor, die Bürger mindestens alle zehn Jahre direkt anzusprechen. Wer ab 16 einen Personalausweis beantragt, ihn verlängert oder sich einen Pass besorgt, soll auf dem Amt Informationsmaterial bekommen. Beim Abholen kann man sich dann auch schon direkt vor Ort in ein neues Online-Register eintragen – mit Ja oder Nein. Auch in Ausländerbehörden soll es so etwas geben. Hausärzte können Patienten bei Bedarf alle zwei Jahre über Organspenden informieren und zum Eintragen ins Register ermuntern – aber ergebnisoffen und mit dem Hinweis, dass es weiter keine Pflicht zu einer solchen Erklärung gibt. Auch bei den Erste-Hilfe-Kursen für den Führerschein soll das Thema behandelt werden. Im Online-Register sollen Entscheidungen jederzeit zu ändern sein.- Wer unterstützt welchen Antrag?

Die Zustimmung zu den einzelnen Anträgen geht quer durch die Fraktionen. Eine knappe Woche vor der Abstimmung hatten sich laut einer Umfrage der Neuen Osnabrücker Zeitung 252 Abgeordnete hinter die Widerspruchslösung gestellt, 221 der 709 Abgeordneten unterstützen die Entscheidungslösung. Von den Abgeordneten der Region findet sich nur die Reutlinger Linken-Abgeordnete Jessica Tatti auf keiner der beiden Unterstützerlisten. Michael Donth (CDU), Heike Hänsel (Linke) Pascal Kober (FDP), Chris Kühn (Grüne), Beate Müller-Gemmeke (Grüne), Martin Rosemann (SPD) und Annette Widmann-Mauz (CDU) unterstützen die Entscheidungslösung. Für die Widerspruchslösung ausgesprochen hat sich beispielsweise die Bundesärztekammer und die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Claudia Schmidtke (CDU). Abgelehnt wird sie unter anderem vom Zentralkomitee der Deutschen Katholiken, aber auch von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD), die als einziges Kabinettsmitglied gegen den Vorschlag des Gesundheitsministers stimmen will. In der FDP-Fraktion zeichnet sich eine Zustimmung zur Entscheidungslösung ab, sagte deren Erster Parlamentarischer Geschäftsführer Marco Buschmann.

Prominente Befürworter der Widerspruchslösung sind bei den Parlamentariern unter anderem SPD-Chefin Saskia Esken, die frühere SPD-Landesvorsitzende Leni Breymaier, der mittelstandspolitische Sprecher der Unionsfraktion Christian Freiherr von Stetten und die innenpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion Ute Vogt.

- Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung?

Da gibt es eine gewisse Kluft zwischen den in Umfragen geäußerten Überzeugungen und dem konkreten Handeln. Während die Zahl der Organspender 2019 leicht auf 932 zurückging und bis zu 2 000 Menschen pro Jahr auf der Warteliste sterben, sehen laut einer Umfrage der Technikerkrankenkasse 84 Prozent der Bundesbürger Organspenden eher positiv.

- Wie sind Organentnahmen in anderen Ländern geregelt?

In Europa gilt in Frankreich, Italien, Spanien, Polen, Österreich und die Türkei eine Widerspruchslösung. Dänemark, Griechenland, Großbritannien, Litauen, Rumänien und die Schweiz haben Zustimmungslösungen. Das betrifft auch Ausländer. Wer sichergehen will, dass sein Wille respektiert wird, braucht also einen Organspendeausweis – auch um ein Nein zu dokumentieren. (GEA/dpa)