TÜBINGEN/BERLIN. Vom Ampel-Galgen bis zur Morddrohung - immer mehr Menschen sind Digitaler Gewalt im Internet ausgesetzt. Der GEA sprach mit dem Medienwissenschaftler Guido Zurstiege von der Universität Tübingen, Felix Neumann, Referent für Extremismus und Terrorismus der Konrad-Adenauer-Stiftung und mit Anna Wegscheider,interne Juristin der gemeinnützigen Organisation HateAid, der unter anderem vom Familien- und Justizministerium gefördert wird und Betroffenen von Digitaler Gewalt hilft.
Wie ist Hassrede und Digitale Gewalt definiert?
Anna Wegscheider von HateAid weist darauf hin, dass digitale Gewalt kein juristischer Begriff ist. Die Organisation HateAid definiert für ihre Beratungsarbeit alles als Digitale Gewalt, was von Betroffenen als digitale Gewalt empfunden wird. Davon zu unterschieden sind Tatbestände, die sowohl in der analogen Welt als auch im Internet strafbar sind. »Eine Morddrohung ist klar justiziabel«. Ebenso könne eine Formalbeleidigung, etwa mit einem Schimpfwort juristisch belang werden. Dies gilt auch für Schmähkritik. Auch Schmähkritik ist in Deutschland verboten. Doch es gebe auch eine große Grauzone von Aussagen, bei denen geprüft werden müsse, ob das Recht der freien Meinungsäußerung höher wiege als der Schutz der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen, so Wegscheider. Sie weist darauf hin, dass es ein Unterschied ist, ob ein Wort diskriminierend oder justiziabel sei. So sei »das N-Wort« für schwarze Menschen oder das Wort »schwul« für sich alleine nicht justiziabel. Es komme auf den Kontext an und es müsse der Aspekt der Herabwürdigung hinzukommen.
Wie kann Digitale Gewalt aussehen?
Anna Wegscheider verweist auf ein breites Spektrum. Neben der klassischen Beleidigung und Bedrohung, gebe es sogenannte Deep Fakes, bei denen das Gesicht eines Betroffenen beispielsweise in eine Pornoaufnahme montiert werde, oder heimlich gefilmte Bilder in kompromittierenden Situationen erstellt würden. Es gebe auch gestohlene Bilder, mit denen Fake-Profile mit echten Namen erstellt würden, die sich dann kompromittierend äußern. Ein weiterer Bereich sei auch das Stalking, das neben einer analogen, oft auch eine digitale Komponente habe.
Wer ist von Digitaler Gewalt betroffen?
Anna Wegscheider spricht von bestimmten Personengruppen und Triggerthemen, die immer wieder zu Hasskommentaren im Internet führen. »Dazu zählen Menschen aus Politik, Journalismus, Aktivismus und Wissenschaft und unter ihnen vor allem Frauen, Menschen mit internationaler Geschichte und jüdische Menschen«. Besonders häufig sei digitale Gewalt, wenn eine Person mehreren dieser Gruppen angehört. Zu den Reizthemen gehörten laut Wegscheider Migration, Feminismus, Klimawandel und während der Pandemie die Schutzmaßnahmen. Wegscheider weist darauf hin, dass Menschen nicht selbst im Netz unterwegs sein müssen, um von digitaler Gewalt betroffen zu sein. »Wir kennen auch Fälle von Menschen, die kein Facebook-Profil haben und von Freunden darauf aufmerksam gemacht wurden, dass es da eine Facebook-Gruppe gibt, wo über sie hergezogen wird«, erzählt Wegscheider. Allerdings sei es schon so, dass diejenigen, die sich selbst in den sozialen Medien äußern, auch häufiger betroffen sind.
Ist das Internet an der Polarisierung und Bildung von Meinungsblasen schuld?
Der Medienwissenschaftler Guido Zurstiege verweist darauf, dass Menschen schon früher die Zeitung konsumierten, die ihnen politisch am nächsten stand. Dazu gebe es sozialwissenschaftliche Studien aus dem Amerika der 1940er Jahre zur Meinungskonformität. Allerdings könnten sich Gleichgesinnte durch das Internet »argumentativ hochrüsten«, was zur Polarisierung führe. Dies führe zu einer zunehmenden Polarisierung mit den Ergebnis, dass die Einstellungen »völlig resistent gegenüber Argumenten« seien, weil die Bewertung ausschließlich über Angehörige der eigenen Blase stattfinde.
Nimmt das Überschreiten von Grenzen in der politischen Auseinandersetzung zu?
»Im Internet ist die Hemmschwelle niedriger«, sagt der Politikwissenschaftler Felix Neumann, Extremismus-Referent der Konrad-Adenauer-Stiftung. Er beobachtet, dass »das Eindringen ins Private« von Politikern zunimmt. Die Bereitschaft, Politikern nicht nur bei offiziellen Terminen den Unmut zu zeigen, sondern ihnen »auch zuhause einen Besuch abzustatten« nehme zu. Aufrufe im Internet könnten im nächsten Schritt leicht in tatsächliche Bedrohungslagen umschlagen und müssten deshalb ernst genommen werden. Auch tätliche Angriffe auf Journalisten, das Zerschlagen von Kameras hätten nach vorheriger Radikalisierung im Netz zugenommen. Anna Wegscheider spricht von über 4.000 Betroffenen, die die Organisation HateAid seit ihrer Gründung 2018 unterstützt habe. »Ich habe das Gefühl, dass digitale Gewalt zunimmt. Aber es ist schwer zu sagen, ob die steigenden Zahlen bei uns auch daher kommen, dass wir bekannter werden und sich deshalb mehr Leute an uns wenden.«
Gibt es bei Hassrede ein Stadt-Land-Gefälle?
»Das Internet verwischt die Grenzen zwischen Stadt und Land«, sagt Anna Wegscheider. Allerdings sei es so, dass ehrenamtliche Kommunalpolitiker nicht die gleichen Strukturen wie ein Bundesminister hätten, um auf Bedrohungen zu reagieren. »Sie haben auch weniger Möglichkeiten auszuweichen«, gibt Wegscheider zu Bedenken. »Für Betroffene aus dörflichen Strukturen und Politiker auf kommunaler Ebene steigt daher das Risikom dass Digitale Gewalt auch in analoge Gewalt übergeht.«
Was kann eine Debatte versachlicht werden?
Guido Zurstiege verweist auf Mechanismen, wonach ein Kommentare in einem Forum erst dann veröffentlichen werden kann, wenn ein User zuvor mindestens zehn Kommentare gelesen habe. Experimente zeigten, dass das die Aussagen relativiere. Es zeige sich jedoch, dass Versuche, den Hass im Internet zu regulieren zumeist eine europäische Debatte seien, während in Amerika der Erste Verfassungszusatz, das Recht auf freie Meinungsäußerung höher gewichtet werde. Felix Neumann empfiehlt Politikern trotz des Hasses das Gespräch zu suchen. »Der große Teil der Protestbewegungen hat Anstand. Dort, wo ein konstruktiver Dialog möglich ist, sollten Politiker ihn auch suchen. Das kann Früchte tragen.«
Wann sollen Betroffene Anzeige erstatten?
»Im Zweifelsfall sollte man Anzeige erstatten«, rät Wegscheider. Im schlimmsten Fall werde das Verfahren eingestellt. Digitale Gewalt werde in Deutschland zu selten angezeigt. Studien zeigten, dass die Bereitschaft, Anzeige zu erstatten, »im einstelligen Bereich« liege, auch weil Betroffene, den Eindruck hätten, dass »eh nichts passiere«. Die Organisation HateAid hilft deshalb unter anderem in geeigneten Fällen bei der Finanzierung von Prozesskosten.