BERLIN. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind einige Nebenhaushalte verfassungswidrig. Was die von Finanzminister Christian Lindner verhängte Haushaltssperre bedeutet und wie es jetzt für die Ampel weitergeht.
- Was bedeutet eine Haushaltssperre?
Es heißt jedenfalls nicht, dass Bundesbehörden heruntergefahren werden und zum Beispiel dort arbeitende Beamte in den unbezahlten Urlaub geschickt werden. Die Situation in Deutschland ist also nicht vergleichbar mit der Rechtslage in den Vereinigten Staaten von Amerika. »Bestehende Verbindlichkeiten werden weiter eingehalten, es dürfen nur keine neuen eingegangen werden«, teilte das Finanzministerium mit. Das betrifft zum Beispiel die Schaffung von neuen Stellen in Behörden oder Ausstattung, die jetzt bestellt und erst im nächsten Jahr bezahlt würde. Nur das Finanzministerium selbst kann per Sonderentscheid Gelder freigeben.
- Warum wurde die Sperre überhaupt nötig?
Das Urteil der Verfassungsrichter zur Schuldenbremse stellt die bisherige Finanzpraxis fundamental infrage. Nicht nur die Auszahlungen aus dem eigentlich beklagten Sondertopf »Transformations- und Klimafonds«, dem das Gericht 60 Milliarden Euro strich, sind betroffen. Auch Gelder aus weiteren Nebenhaushalten haben wahrscheinlich gegen das Grundgesetz verstoßen. Im Feuer stehen unter anderem die staatlichen Subventionen für die Strom- und Gaspreisbremse. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat bereits das Aus für diese Hilfen angekündigt. Im laufenden Jahr 2023 haben beide Preisbremsen laut Bundesrechnungshof allein bis Ende September 32,3 Milliarden Euro gekostet. Weil das wohl gegen die Verfassung verstieß, muss der Betrag wiederbeschafft werden. Denkbar ist, dass zu der Summe noch weitere Gelder kommen, die aus anderen Schattenhaushalten, wie zum Beispiel dem Hilfsfonds für den Aufbau des Ahrtals nach der Flut, finanziert wurden.
- Woher soll das Geld kommen?
Mittlerweile kristallisiert sich heraus, dass die Ampel-Koalition rückwirkend für 2023 eine Notlage ausrufen will. Damit soll die Möglichkeit geschaffen werden, die Schuldenbremse auszusetzen, die eigentlich dieses Jahr eingehalten werden sollte. Die abgeflossenen Gelder für die Energiepreisbremsen sollen dadurch am Finanzmarkt über Kredite beschafft werden, um die Bilanz auszugleichen. Dazu bedarf es eines Nachtragshaushaltes. Der Wirtschaftsberater von Finanzminister Christian Lindner (FDP), der Ökonomieprofessor Lars Feld, hat genau das vorgeschlagen. »Bis Ende dieses Jahres muss ein Nachtragshaushalt verabschiedet werden. Es lässt sich noch die Ausnahmeklausel bemühen«, sagte Feld. Die Begründung des Lindner-Vertrauten mutet allerdings etwas nach einer juristischen Verrenkung an. Weil die Bundesregierung nicht mit dem Urteil der Verfassungsrichter habe rechnen können, sei jetzt die rückwirkende Ausrufung der Notlage geboten. Immerhin: Feld steht mit seiner Argumentation nicht allein da. Auch der Rechtsprofessor Hanno Kube von der Universität Heidelberg sieht darin einen gangbaren Weg. »Ein Nachtrag für 2023 ist aus meiner Sicht sehr, sehr naheliegend«, sagte der Jurist am Dienstag bei einer Anhörung im Haushaltsausschuss des Bundestages. Kube ist nicht irgendwer. Er hatte die Unionsfraktion bei ihrer Klage gegen eben jenes Finanzgebaren der Ampelkoalition beraten, die zu dem wegweisenden Urteil in Karlsruhe führte.
- Was heißt das für den Finanzminister?
Für Finanzminister Christian Lindner (FDP) wäre es gleichwohl eine schwere persönliche Niederlage. »Die neue Rechtsklarheit ist kein Anlass, die Schuldenbremse zu schleifen, sondern sie zu stärken«, hatte er erst am Wochenende gesagt. Der 44-Jährige hatte zuletzt immer wieder gemahnt, dass die (zu hohen) Ausgaben in den Fokus genommen werden müssten. Für den Finanzminister pikant ist auch, dass er gemeinsam mit SPD und Grünen das verfassungswidrige Aufladen des Klimafonds mit den 60 Milliarden Euro vorangetrieben hat. Die Idee hatte allerdings sein Vorgänger im Amt: der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).
- Hätte die Ampel das Urteil erahnen können?
Ja. Der unabhängige Stabilitätsrat beim Bundesfinanzministerium warnte schon im Dezember 2021 vor »erheblichen verfassungsrechtliche Risiken« der Operation zur Aushebelung der Schuldenbremse. Der Staatsgerichtshof in Hessen hatte außerdem einen ähnlich gestrickten Krisenfonds Bundeslandes für unvereinbar mit der dortigen Landesverfassung erklärt.
- Was heißt das für den Haushalt 2024?
Die Ampel muss nicht nur rückwirkend ein Milliardenloch im laufenden Jahr schließen, sondern auch im kommenden. Denn die 60 Milliarden Euro für den Klimafonds haben die Verfassungsrichter gestrichen. 2024 wird nicht die volle Summe fällig, sondern ein Anteil von 20 Milliarden Euro. Eingeplant war das Geld beispielsweise für die E-Autoprämie, den Heizungszuschuss, Bahngleise und Chipfabriken. In der Koalition tobt jetzt der Streit, ob Ausgaben gekürzt oder Steuern erhöht werden müssen. SPD und Grüne plädieren dafür, die Schuldenbremse zu reformieren oder ganz abzuschaffen. Dann könnte weiter auf Pump gewirtschaftet werden. Trotz vieler offener Fragen ist die Koalition fest entschlossen, von Donnerstag und auf Freitag in der zweiten Bereinigungssitzung das Zahlenwerk festzuzurren, um es bis vor Weihnachten durch Bundestag und Bundesrat zu bringen.
- Ist das ohne Risiko?
Nein, sagt die Union. CDU-Haushaltsexperte Christian Haase warnte die Koalition am Dienstag davor, »sehenden Auges in einen verfassungswidrigen Haushalt« hineinzulaufen. Die Union, die mit ihrer erfolgreichen Klage vor dem höchsten deutschen Gericht die Regierung vor die schwerste Probe gestellt hat, fordert die Absage der Bereinigungssitzung an diesem Donnerstag.
- Was bedeutet das Urteil ökonomisch?
Die zur Expertenanhörung geladenen Wirtschaftsprofessoren waren sich einig, dass ein Ausfall der Gelder aus dem Klimafonds zum grünen Umbau der Wirtschaft das Zeug hat, Deutschland in einen Abschwung zu schicken. 2023 stehen ohnehin alle Zeichen auf Rezession, doch nun wackelt auch die vorausgesagte Erholung 2024. »Wir sind gesamtwirtschaftlich in einer außerordentlich schwierigen Situation«, mahnte der Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther. Der Wirtschaftsprofessor Jens Südekum vor der Universität Düsseldorf schlug in die gleiche Kerbe. »Das hätte das Potenzial, die Rezession, in der wir stecken, erheblich zu verlängern.« Unter Ökonomen gibt es eine breite Übereinstimmung in der Einschätzung, dass die Schuldenbremse reformiert werden muss. Investitionen in Wirtschaft und Infrastruktur sollen auch auf Kredit möglich sein. (GEA)