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Warum den Kirchen die Mitglieder weglaufen

Die beiden großen Kirchen in Deutschland haben ein Problem: Immer mehr Menschen verlassen die Institution. Welche Gründe sie haben und was das für die Gesellschaft bedeutet.

Leere Bänke: Immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus - mit weitreichenden Folgen.
Leere Bänke: Immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus - mit weitreichenden Folgen. Foto: Sebastian Willnow/dpa
Leere Bänke: Immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus - mit weitreichenden Folgen.
Foto: Sebastian Willnow/dpa

REUTLINGEN. In der Bibel fordert Jesus seine Jünger auf, Menschenfischer zu sein. Die Kirchen und ihre Angestellten, die diese Aufgabe heute erfüllen, sind darin allerdings immer erfolgloser. Seit Jahren schwindet ihr Einfluss, die Anzahl der Kirchenaustritte hat eine neue Höchstmarke erreicht.

Wie viele Leute treten aktuell aus der Kirche aus?

Im vergangenen Jahr sind mehr als eine halbe Million Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten. Die Deutsche Bischofskonferenz teilte mit, es seien 522.821 Austritte gewesen - ein neuer Negativrekord. Den bisherigen Rekord verzeichnete das Jahr 2021 mit 359.338 Austritten. Somit gehören noch rund 21 Millionen Deutsche der katholischen Kirche an. Das entspricht 24,8 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Auch vor der evangelischen Kirche macht der Schwund nicht halt. Sie hat 2022 ebenfalls mehr Mitglieder verloren, als im Jahr zuvor. Rund 380.000 Menschen traten im vergangenen Jahr aus der evangelischen Kirche aus. Somit sind noch rund 19,2 Millionen Menschen Mitglied der evangelischen Kirche.

Weniger als fünfzig Prozent der Bundesbürger sind Mitglied einer großen Kirche

Der Anteil der Konfessionslosen in der Gesamtbevölkerung wird immer größer. Aktuell sind rund 34 Millionen Bundesbürger in keiner Kirche. Im Jahr 2021 Unterschritt die Anzahl der Kirchenmitglieder das erste Mal die Schwelle von fünfzig Prozent. Der Einfluss der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland sinkt also zusehends.

Was sind die Gründe für den Austritt?

Die Gründe für einen Kirchenaustritt sind so vielfältig wie die Menschen selbst. Der am häufigsten angegebene Austrittsgrund ist die Kirchensteuer. Diese beträgt in Bayern und Baden-Württemberg acht, in allen anderen Bundesländern neun Prozent der zu zahlenden Einkommensteuer. Je nach Einkommen können da über das Jahr gerechnet schon mehrere hundert Euro zusammenkommen. Bei steigender Inflation fragen sich einige Menschen daher, ob sie das Geld für die Kirchensteuer im eigenen Geldbeutel nicht besser gebrauchen könnten.

Ein Mottowagen im Düsseldorfer Karneval befasst sich mit dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche und zeigt den Teufel
Ein Mottowagen im Düsseldorfer Karneval befasst sich mit dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche und zeigt den Teufel mit dem Kölner Kardinal Woelki. Foto: Federico Gambarini/dpa
Ein Mottowagen im Düsseldorfer Karneval befasst sich mit dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche und zeigt den Teufel mit dem Kölner Kardinal Woelki.
Foto: Federico Gambarini/dpa

Es zeigt sich aber auch: Geld ist nicht der einzige Grund. Bei Bekanntwerden von Missbrauchsskandalen steigen die Austrittszahlen bei den Kirchen - auch der evangelischen - meist sprunghaft an. Die Menschen sind mit der Aufarbeitung nicht zufrieden und treten aus. Auch der Ruf der Institution Kirche als moralische Instanz leidet unter den Skandalen.

Ein weniger greifbarer Austrittsgrund als Steuern und Skandale, ist der Bedeutungsverlust der Kirchen. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat eine Studie angefertigt, die den Kirchenaustritt als Prozess beschreibt. Für viele moderne Menschen hat die Kirche in ihrem alltäglichen Leben an Relevanz verloren. Sie gehen nicht mehr regelmäßig in den Gottesdienst, zuhause wird nicht gebetet, Kinder werden nicht mehr religiös erzogen und für moralische Fragen ist nicht mehr die Kirchen der erste Ansprechpartner. Nach der Firmung oder der Konfirmation bestehen mit der Kirche also keine Berührungspunkte mehr. Dann braucht es oft nur noch einen konkreten Anlass, damit sich der geistig schon längst vollzogene Austritt auch in Papierform manifestiert.

Die Einnahmen durch die Kirchensteuer sind vor allem wegen der Lohnentwicklung in den vergangenen zwanzig Jahren zwar gestiegen
Die Einnahmen durch die Kirchensteuer sind vor allem wegen der Lohnentwicklung in den vergangenen zwanzig Jahren zwar gestiegen doch weniger, als zu erwarten war. Foto: dpa-infografik GmbH/dpa
Die Einnahmen durch die Kirchensteuer sind vor allem wegen der Lohnentwicklung in den vergangenen zwanzig Jahren zwar gestiegen doch weniger, als zu erwarten war.
Foto: dpa-infografik GmbH/dpa

Welche Folgen haben die Austritte für die Kirchen?

Etwa 13 Milliarden Euro an Steuereinnahmen bekamen die beiden großen Kirchen in Deutschland im vergangenen Jahr. Sie nahmen zu, weil auch die Löhne stiegen. Eine Menge Geld für die Kirchen, sollte man meinen. Doch kaufkraftbereinigt wird das Kirchensteueraufkommen in den nächsten Jahren sinken. Bemerkbar machen sich die Austritte auch, wenn man die Einnahmen der Kirchensteuer mit den gesamten Steuereinnahmen durch die Einkommenssteuer vergleicht: Während das Steueraufkommen durch die Einkommenssteuer in Deutschland 2022 insgesamt um 4,5 Prozent zulegte, waren es bei den Kirchen nur 1,5 Prozent.

Kirchen müssen entweiht und abgerissen werden

Das hat Konsequenzen. Viele, oft denkmalgeschützte kirchlichen Gebäude sind marode und müssen saniert werden. Nicht jede Gemeinde kann sich das leisten. Kirchen müssen entweiht, anders genutzt oder sogar abgerissen werden. Seit 2000 traf dieses Schicksal mehr als 500 katholische Kirchen in Deutschland. Um Geld und Personal zu sparen werden zudem Gemeinden zusammengelegt.

Welche Folgen ergeben sich für den Einzelnen?

Wer aus der Kirche austritt, verliert Ansprüche. So gibt es mit dem Austritt keine Möglichkeit für eine kirchliche Trauung, der Ausgetretene wird vom Taufpaten- oder Firmpatenamt ausgeschlossen und auch die kirchliche Beerdigung entfällt. Bei einem kirchlichen Arbeitgeber kann - je nach Tätigkeit - sogar das Dienstverhältnis aufgehoben werden, da die Kirchen per Grundgesetz ein Selbstbestimmungsrecht haben.

Wer aus der Kirche ausgetreten ist, kann sich nicht mehr kirchlich trauen lassen.
Wer aus der Kirche ausgetreten ist, kann sich nicht mehr kirchlich trauen lassen. Foto: Frank Molter
Wer aus der Kirche ausgetreten ist, kann sich nicht mehr kirchlich trauen lassen.
Foto: Frank Molter

Welche Folgen hat der Mitgliederschwund bei den großen christlichen Kirchen für die Gesellschaft?

Nicht nur Kirchengebäude und Gemeindearbeit sind von den Austritten und dem daraus resultierenden Geldmangel betroffen. Die Kirchen nehmen auch viele andere Aufgaben in der Gesellschaft wahr, gerade im sozialen Bereich. Diakonie und Caritas sind der evangelischen beziehungsweise der katholischen Kirche zugehörig. Auch sie müssen durch die geringer ausfallenden Steuereinnahmen den Gürtel enger schnallen. Davon betroffen sind Hilfs- und Beratungsangebote für Familien, Alleinerziehende, Obdachlose, Kranke, Drogensüchtige oder Migranten. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände leisten zudem Hospizarbeit, Katastrophenhilfe und Entwicklungshilfe. Viele Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser und Pflegeheime werden zum Teil durch Kirchensteuern finanziert. Können die Kirchen die Arbeit in diesen sozialen Einrichtungen irgendwann nicht mehr bezahlen, wird der Steuerzahler wohl anders dafür aufkommen müssen.

Was tun die Kirchen gegen den Mitgliederschwund?

Für Aufsehen sorgt seit 2019 der Synodale Weg in der katholischen Kirche in Deutschland. Laien und geistliche Würdenträger versuchen hier gemeinsam, die katholische Kirche zu modernisieren und wieder näher an die Gesellschaft heranzuführen. Jahrtausendealte Traditionen wie das Zölibat oder die Stellung der Frau in der katholischen Kirche werden auf den Prüfstand gestellt. In Rom sieht man das nicht so gerne. So nannte der Papst den Synodalen Weg elitär. Auch gibt es Ängste vor einer Spaltung der Kirche.

Streit über Modernisierungen auch in der evangelischen Kirche

In der evangelischen Kirche, in der immerhin die Stellung der Frau und das Zölibat als Kritikpunkte wegfallen, wird ebenfalls über eine Modernisierung gestritten. Während einige eine weitere Öffnung gegenüber Ehen für Homosexuelle, gegenüber Scheidungen oder der Ökumene fordern, stellen sich konservative Protestanten gegen die Pläne, empfinden sie gar als unchristlich. Eine klare Idee, wie der Mitgliederschwund beendet werden kann und die Kirchen wieder zu Menschenfischern werden, hat jedoch noch keine der beiden Kirchen gefunden. (GEA)