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Wann wird der Iran angreifen?

Mit jedem Tag wächst die Sorge vor einem großen Krieg in Nahost. Warum ein Gegenschlag unausweichlich ist

Der getötete Hamas-Führer Ismail Hanija wird nicht nur im Jemen als Märtyrer gefeiert.  FOTO: ABDULRAHMAN/DPA
Der getötete Hamas-Führer Ismail Hanija wird nicht nur im Jemen als Märtyrer gefeiert. FOTO: ABDULRAHMAN/DPA
Der getötete Hamas-Führer Ismail Hanija wird nicht nur im Jemen als Märtyrer gefeiert. FOTO: ABDULRAHMAN/DPA

REUTLINGEN. Seit der Tötung von zwei Anführern Hamas und Hisbollah wächst die Kriegsangst in Nahost. Wann werden der Iran und seine Verbündeten zum angedrohten Gegenschlag ausholen und Israel angreifen, lautet die Frage. Doch zugleich laufen auch intensive diplomatische Bemühungen, um die Lage zu beruhigen. Ein Überblick über militärische Stärke, Machtinteressen und politische Bündnisse in dieser schwierigen Weltregion sowie eine Einschätzung von Nils Schmid, dem außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.

- Wann werden der Iran und seine Verbündeten angreifen?

Der Iran und seine Verbündeten sprechen immer wieder davon, dass der Vergeltungsschlag auf den Erzfeind Israel in den »nächsten Tagen« erfolgen wird. Auch die USA rechnen mit einem engen Zeitfenster, bis der Iran angreift. Das zeigt sich auch an der Verlegung von US-Kriegsschiffen nach Nahost. Zudem werden im iranischen Staatsfernsehen immer wieder Umfragen gezeigt, wie die Regierung auf die Tötung des Hamas-Führers in Teheran reagieren soll. Die Antworten der Bürger sind eindeutig: mit einem Gegenschlag. Mit solchen Beiträgen will das Regime in Teheran die Bevölkerung auf einen Angriff vorbereiten.

Bei dem Konflikt geht es auch um Symbolik. Deshalb darf nicht zu viel Zeit zwischen dem Angriff und dem Gegenangriff liegen. Das könnte als Schwäche und Unentschlossenheit interpretiert werden.

Experten erwarten, dass die Hisbollah im Libanon, die Hamas im Gaza-Streifen, die Huthi-Miliz im Jemen sowie islamistische Gruppen in Syrien und im Irak gemeinsam Israel angreifen. In diesem Fall droht Israel ein Mehrfrontenkrieg. Wann der genau beginnen wird, kann niemand vorhersagen. Dass es eine Vergeltung geben wird, darf aber als gesichert angenommen werden.

- Wie stark sind der Iran und seine Verbündeten?

Eines der Ziele der Hamas im Gaza-Streifen war es, den militärischen Konflikt auszuweiten und so Israel in einen Mehrfrontenkrieg zu verwickeln. Sollten der Iran und seine Verbündeten angreifen, wäre das also auch ein großer Erfolg für die Hamas.

Der Iran ist eine militärische Großmacht in der Region. Das Land hat in den vergangenen Jahren Milliarden in den Ausbau seiner Armee gesteckt. Die iranische Armee und die Revolutionsgarden haben rund 500.000 Soldaten. Die Hamas hat nach Schätzungen zwischen 30.000 und 40.000 Kämpfer. Darüber hinaus verfügt der Iran über ein großes Arsenal an Langstreckenraketen. Experten sprechen von etwa 3.000 Raketen mit großer Reichweite. Zudem hat das Regime Kriegsschiffe, Kampfflugzeuge und Drohnen. Damit kann der Iran jeden Ort in Israel treffen.

Doch Irans Stärke ist nicht allein die militärische Hochrüstung. Es hat in der Region zahlreiche Verbündete etwa in Syrien, im Irak, im Jemen und im Libanon. Einer der wichtigsten Verbündeten in dem Konflikt mit Israel ist die Hisbollah im Libanon. Sie verfügt nach westlichen Schätzungen über 150.000 Raketen, Drohnen und Marschflugkörper. Sie bildet im Libanon eine Art Staat im Staat.

Militärexperten gehen davon aus, dass bei einer Eskalation für Israel die größte Gefahr aus dem Libanon droht. Dort sitzt die hochgerüstete Hisbollah. Wegen der kurzen Entfernung kann sie sehr viele Waffen einsetzen und die Reaktionszeit ist für Israel sehr kurz. Der Iran kann hingegen wegen der großen Entfernung nur Langstreckenwaffen einsetzen. Diese sind teuer und lange in der Luft. Sie können leichter von der israelischen Luftabwehr abgefangen werden.

- Wie reagiert Israels Regierung auf die Bedrohung?

Premierminister Benjamin Netanjahu gibt weiter den starken Mann. Er hat erklärt, sein Land sei auf jedes Szenario auf »höchstem Niveau« vorbereitet. Allerdings stehen er und die israelische Armee immer noch in der Kritik, weil Israel durch den Angriff der Hamas überrascht wurde und daher unvorbereitet war.

Nach den iranischen Drohungen hat Israel seine Armee in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Die USA haben bereits Kriegsschiffe und Flugzeugträger in die Region entsandt. Israel setzt in dem Konflikt auf militärische Stärke und seine Verbündeten: USA, Großbritannien und Jordanien. Eine wichtige Rolle für Israel spielt auch die Raketenabwehr Iron Dome. Jordanien gilt als enger Verbündeter des Westens. Es half bei dem Angriff im April, iranische Drohnen und Raketen abzufangen.

- Wie bewertet Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, die Lage?

Der Außenpolitikexperte der SPD und Nürtinger Bundestagsabgeordnete ordnet die Situation in Nahost so ein: "Die Lage ist sehr ernst. Wir beobachten seit Monaten die Zuspitzung der kriegerischen Handlungen zwischen Israel und der Hisbollah einerseits und Israel und Iran andererseits.

Aufgrund der Tötungen des Hamas-Führers Ismail Haniyeh während seines Besuchs in Iran und des Hisbollah-Kommandanten wu’ ad Shukr letzte Woche ist die Stimmung erneut extrem angespannt. Die Menschen in der Region haben große Angst. Zuletzt, nach dem direkten Angriff Irans auf Israel im April dieses Jahres, konnte die Situation noch einmal deeskaliert werden. Doch sie symbolisiert einen gefährlichen Tiefpunkt in der Beziehung beider Staaten.

Der vorangegangene Angriff der Hisbollah, der auf den Golanhöhen vor zwei Wochen zwölf Menschen – größtenteils Kinder – getötet hat, verdeutlicht das Leid, das dieser Konflikt auf allen Seiten immer wieder verursacht. Bereits seit Monaten können die Menschen im Norden Israels und im Süden Libanons nicht in ihre Häuser zurückkehren.

Trotz dieser düsteren Lage stimmt mich das Engagement vieler internationaler Akteure wie der USA, unserer europäischen Partner und der arabischen Staaten in der Region zuversichtlich. Diese Situation verdient unsere ungebrochene Aufmerksamkeit und unser stetiges Engagement. Deutschland ist mit Annalena Baerbock und Olaf Scholz so engagiert wie nie zuvor in der Region und zusammen mit unseren Partnern schaffen wir es immer wieder, Gesprächskanäle zu öffnen und Situationen zeitweise zu deeskalieren.

Klar ist: Militärische Stärke allein wird Israel keinen dauerhaften Frieden bringen. Selbstverständlich muss die israelische Regierung ihre Bürgerinnen und Bürger gegen Raketenangriffe verteidigen. Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern bedarf aber einer politischen Lösung. Um dieser den Weg zu bereiten, braucht es verstärkte diplomatische Anstrengungen für einen Waffenstillstand im Gazastreifen und die sofortige Freilassung aller Geiseln."

- Lässt sich der Ausbruch eines großen Krieges in Nahost noch verhindern?

Krieg oder Nicht-Krieg, das ist die alles entscheidende Frage. Ein Gegenschlag lässt sich nach Ansicht der meisten Experten nicht mehr abwenden. Das würde das Regime im Iran zu sehr schwächen. Deshalb geht es nun darum, den Vergeltungsschlag so zu kalibrieren, dass er als angemessene Antwort des Irans verstanden wird und daraus nicht ein großer Mehrfrontenkrieg in Nahost entsteht.

Fest steht: Der Iran muss militärisch angreifen. Der Schlag muss stark genug sein, um die Israelis abzuschrecken. Sonst werden sie – so Irans Kalkül – mit ihren Angriffen auf die islamische Republik weiter machen und andere hochrangige Vertreter dieser Länder töten sowie die militärische Infrastruktur wie Waffenlager oder andere militärische Ziele ins Visier nehmen. Das wollen Teheran und seine Verbündeten verhindern. Gleichzeitig hat aber die Regierung im Iran, wo die Menschen wegen der schlechten Wirtschaftslage auf die Straße gehen, kein Interesse an einem langen Krieg, der die Lebensbedingungen weiter verschlechtern und die Spannungen in der Gesellschaft noch stärker anheizen würde.

Auf der anderen Seite kommt es auf die Diplomatie westlicher Staaten an. Die USA als wichtigster Verbündeter Israels müssen dafür sorgen, dass die Regierung von Präsident Netanjahu nicht überreagiert. Die Antwort auf den iranischen Vergeltungsschlag darf nicht zu heftig ausfallen und Teheran zu einem weiteren Angriff animieren.

Eine wichtige Rolle spielen auch die Regionalmächte Katar, Ägypten und Jordanien. Sie versuchen zwischen Israel und der Iran-Hamas-Allianz zu vermitteln.

- Wie ist die Lage für Deutsche, die sich in der Krisenregion aufhalten?

Außenministerin Annalena Baerbock fordert alle Deutschen in der Region auf, gefährliche Gebiete schnellstmöglich zu verlassen. »Noch gibt es die Möglichkeit, das Ruder herumzureißen«, schrieb die Grünen-Politikerin. Der Krisenstab der Bundesregierung sei erneut im Auswärtigen Amt zusammengetreten, teilte die Ministerin mit. Sie schrieb weiter: »Alle Deutschen in der Region fordere ich auf, unsere Reisewarnungen ernst zu nehmen.« Für den Libanon gilt aktuell eine Reisewarnung verbunden mit einer dringenden Ausreiseaufforderung. Aus dem Auswärtigen Amt hieß es, die Lage sei heute anders als bei der zurückliegenden Evakuierung 2006. Damals waren etliche deutsche Staatsbürger über Syrien ausgereist, ein Weg, der heute aufgrund der Lage in Syrien nicht mehr nutzbar ist.

Die Bundeswehr hält Soldaten, Flugzeuge und Material bereit, um eigene Staatsbürger – in früheren Fällen auch Menschen aus befreundeten Staaten – zu retten. Diese Aufgabe ist Teil der Nationalen Krisenvorsorge (NatKV) der deutschen Streitkräfte. (GEA)