CARDIFF. Das Wörtchen »historisch« wird oft bemüht, aber hier passt es. »Wir schlagen eine neue Seite auf im Buch der Geschichte unseres Landes«, kommentierte Vaughan Gething seine Wahl zum Chef der regierenden Labour-Partei in Wales und spielte damit auf seine Hautfarbe an. Gething löste den bisherigen Ministerpräsidenten Mark Drakeford ab und wird am heutigen Mittwoch durch die Nominierung des walisischen Parlaments zum ersten schwarzen Regierungschef in Europa. Damit beweist das Vereinigte Königreich einmal wieder eine Vorreiterrolle, was die Diversität ihrer Führungsfiguren angeht.
Vaughan Gething definiert sich selbst ungern in erster Linie als schwarz und bezeichnet sich lieber als »ein Waliser, der in Sambia geboren wurde«. Sein Vater, ein Tierarzt aus Wales, heiratete dort eine schwarze Geflügelzüchterin, der gemeinsame Sohn lernte Afrika nur in den ersten beiden Lebensjahren kennen. Als die Familie 1976 ins Fürstentum zurückkehrte, gab es eine böse Überraschung: Das dem Vater zugesagte Job-Angebot wurde zurückgezogen, weil er eine schwarze Familie mitbrachte. Vorurteile aufgrund seiner Hautfarbe erfuhr Vaughan Gething auch später reichlich. Er biss sich durch, studierte Jura und wurde schließlich Präsident der Studentengewerkschaft.
Für Politik interessierte sich Gething schon früh. Als 17-Jähriger trat er Labour bei und arbeitete in den 90er-Jahren als Assistent für verschiedene Labour-Abgeordnete des Senedd, wie das Parlament in Cardiff genannt wird. 2011 wurde er selbst zum Abgeordneten und machte schnell Karriere, als er es 2013 in die Regierungsmannschaft schaffte. 2016 wurde er zum Gesundheitsminister ernannt und wechselte 2021 ins Wirtschaftsressort. Am 16. März dieses Jahres, einen Tag nach seinem 50. Geburtstag, errang er schließlich den Spitzenjob, als ihn die walisische Labour-Partei zum Vorsitzenden und damit zum designierten Regierungschef wählte.
Das Ergebnis fiel allerdings mit 51,7 zu 48,3 Prozent, die der Gegenkandidat und Bildungsminister Jeremy Miles erzielte, denkbar knapp aus. Die Partei ist nach einem hitzigen Wahlkampf zerstritten. Es gibt Vorwürfe, dass sich Gething den Sieg bei der Basis erkauft hätte dank einer Spende von 200.000 Pfund, die ihm ausgerechnet ein zweifach vorbestrafter Umweltsünder zukommen ließ. Die dringlichste Aufgabe für Gething wird jetzt sein, die Fraktion wieder zu einigen. Daneben gibt es andere Baustellen, die sein Vorgänger Mark Drakeford zurückließ. Das walisische Gesundheitssystem, das immerhin rund die Hälfte der Regierungsausgaben verschlingt, ist in schlimmer Verfassung und weist Rekord-Wartelisten auf. Die Bauern protestieren gegen Umweltauflagen. Und die Autofahrer des Fürstentums regen sich über ein neues allgemeines Tempolimit von 20 Meilen auf, umgerechnet etwa 30 Stundenkilometer.
Fast wie einst Churchill
Gethings Aufstieg ins Amt als erster schwarzer Regierungschef reiht sich ein in einen wohl etablierten Trend. In keinem anderen Land in Europa gibt es so viele Politiker mit Migrationshintergrund in Führungspositionen wie in Großbritannien. Premierminister Rishi Sunak ist bekennender Hindu, und der schottische Ministerpräsident Humza Yousaf ebenso wie der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan sind pakistanischer Abstammung. In der Vergangenheit hatte man eine buddhistische Innenministerin und mit James Cleverly einen schwarzen Außenminister. Der Südostasiate Sajid Javid hatte sogar fast so viele unterschiedliche Kabinettsposten inne wie einst Winston Churchill. Grund genug für das Politikmagazin »Spectator« Großbritannien zu einem der »weltweit erfolgreichsten multi-konfessionellen und multi-ethnischen Gesellschaften« zu erklären. (GEA)

