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Aktuell INTERVIEW

Tübinger Experte: »Ost-Jerusalem ist annektiert wie die Krim«

Der Tübinger Nahost-Experte Oliver Schlumberger zur Anerkennung Palästinas

Domnastranten in Kreuzberg fordern die Anerkennung Palästinas.  FOTO: ZINKEN/DPA
Domnastranten in Kreuzberg fordern die Anerkennung Palästinas. FOTO: ZINKEN/DPA
Domnastranten in Kreuzberg fordern die Anerkennung Palästinas. FOTO: ZINKEN/DPA

TÜBINGEN. Warum Deutschland Palästina nicht folgen wird und warum letztlich US-Präsident Joe Biden bestimmt, wie weit Benjamin Netanjahu gehen kann, das ordnet der Politikwissenschaftler Oliver Schlumberger, Professor für die Politik des Vorderen Orients an der Universität Tübingen, ein.

GEA: Was bedeutet die Anerkennung Palästinas durch Spanien, Norwegen und Irland für den Friedensprozess im Nahen Osten?

Oliver Schlumberger: Von den 193 Mitgliedsstaaten der Uno haben jetzt knapp 150 Palästina als Staat anerkannt. Dass jetzt drei weitere Staaten Palästina anerkennen, macht keinen wesentlichen Unterschied und ist auch nicht so erstaunlich. Die Anerkennung erfolgte seit 1988 in Wellen, meistens dann, wenn die israelische Besatzungspolitik besonders brutal wurde. Für die Friedensaussichten bedeutet das erstmal gar nichts.

Was hat die drei Staaten dazu bewogen, Palästina jetzt anzuerkennen?

Schlumberger: Es ist seit Langem so, dass es in mehreren europäischen Ländern gesellschaftliche Mehrheiten dafür gibt, Palästina anzuerkennen; die Parlamente von Portugal, Frankreich oder Großbritannien etwa hatten schon vor zehn Jahren ihre Regierungen aufgefordert, Palästina anzuerkennen; die Regierungen folgten diesen Mehrheiten nicht immer. Die Anerkennung Palästinas durch diese drei Staaten geschieht auch, um Druck auszuüben auf die anderen EU-Mitgliedsstaaten, auch auf Deutschland, das sich wohl am stärksten pro-israelisch positioniert hat. Staaten wie Deutschland sind nun gezwungen, ihre ablehnende Haltung hinsichtlich der Anerkennung palästinensischer Staatlichkeit zu erklären. Es bleibt auch abzuwarten, wie sich Belgien positioniert.

Wäre es nicht besser, Europa würde mit einer Stimme sprechen, wenn es international Gewicht haben möchte, oder ist das utopisch?

Schlumberger: Ja, zu beiden Fragen. Europa hat im Nahen Osten selten mit einer Stimme gesprochen. Frankreich etwa ist traditionell eher pro-palästinensisch orientiert, Deutschland dagegen positioniert sich wegen seiner besonderen historischen Verantwortung pro-israelisch und folgt außerdem außenpolitisch traditionell den USA. Deutschland fällt es meist schwer, eine unabhängige außenpolitische Position zu beziehen.

Heißt das, dass Deutschland seine Position ändern würde, wenn die Amerikaner ihre Position ändern würden?

Schlumberger: Es wird wohl wegen der historischen Beziehung trotzdem nicht passieren. Die derzeitige israelische Regierung will mit dem Abzug seiner Botschafter dafür sorgen, dass keine weiteren EU-Staaten dem Beispiel Spaniens, Norwegens und Irlands folgen. Einen Abzug des israelischen Botschafters will keine deutsche Regierung riskieren. Die Ampelregierung hat derzeit genügend andere Probleme, warum sollte sie also dieses Fass auch noch aufmachen?

Welchen Einfluss hat Deutschland im Nahen Osten?

Schlumberger: Deutschland spielt keine entscheidende Rolle. Es spielt die Rolle eines großen Geldgebers der palästinensischen Autonomiebehörde. Womit eine rechtspopulistische israelische Regierung durchkommt, das entscheiden letztlich die USA. Schon die Verlagerung der Hauptstadt nach Jerusalem war völkerrechtlich nicht akzeptabel. Ost-Jerusalem ist annektiert wie die Krim. Aber die Trump-Administration hat das akzeptiert.

Wie endet der Gaza-Krieg?

Schlumberger: Da wage ich keine Prognose. Deutschland und die Amerikaner wären gut beraten, die Zwei-Staaten-Lösung nicht aus den Augen zu verlieren. Andererseits ist auch der Bundesregierung klar, dass mit Netanjahu kein substanzieller Friedensprozess zu machen ist, da er Verhandlungen auf der Basis der international akzeptierten Zwei-Staaten-Lösung offen ablehnt. Wichtig ist, dass überhaupt wieder ein substanzieller Friedensprozess in Gang gesetzt wird, und hierzu könnte die Anerkennung Palästinas einen Baustein darstellen, auch wenn das aktuelle Netanyahu-Kabinett dies aus naheliegenden Gründen anders darzustellen sucht. (GEA)

ZUR PERSON

Oliver Schlumberger (Jahrgang 1970) studierte Politik- und Islamwissenschaft in Tübingen, Genf und Damaskus, anschließend war er Politikberater. An der Universität Tübingen ist Schlumberger Leiter des Fachbereichs Vorderer Orient und Vergleichende Politikwissenschaft. (GEA)