REUTLINGEN. Zum Jahrestag des Angriffs Russlands auf die Ukraine wird an deutschen Esstischen genauso wie in der deutschen Politik heftig darüber gestritten, wie der Krieg beendet werden kann. Während Bundeskanzler Scholz und die Koalitionäre aus SPD, Grünen und FDP für Waffenlieferungen plädieren, um Putin an den Verhandlungstisch zu zwingen, fordern vor allem die Linken einen Stopp der Waffenlieferungen und mehr Anstrengungen, diplomatische Lösungen für den Ukraine-Konflikt zu finden.
Die Emotionen kochen hoch – so auch nach dem Interview der Reutlinger Linken-Bundestagsabgeordneten Jessica Tatti am 24. Februar im GEA. Die Landtags- und Bundestagabgeordneten aus den Kreisen Reutlingen und Tübingen werfen Tatti vor, Unwahrheiten zu verbreiten. Rudi Fischer (FDP), Cindy Holmberg (Grüne), Dorothea Kliche-Behnke (SPD), Pascal Kober (FDP), Christian Kühn (Grüne), Daniel Lede Abal (Grüne), Beate Müller-Gemmeke (Grüne), Thomas Poreski (Grüne) und Martin Rosemann (SPD) haben deshalb ein Widerspruchsschreiben verfasst, das dem GEA vorliegt. Sie wollen die Aussagen Tattis nicht unkommentiert lassen. Der GEA hat Jessica Tatti mit der Kritik ihrer Kollegen und Kolleginnen konfrontiert. Hier die zentralen Streitpunkte:
- Jessica Tatti im Interview: »Es gab seitens der Nato Versprechungen an Michail Gorbatschow, die Nato nicht nach Osten auszudehnen.«
»Es hat nie ein Versprechen gegeben, den osteuropäischen Staaten einen Beitritt zur Nato zu verweigern«, schreiben die Abgeordneten in ihrem Brief. »Die These, die russische Politik sei eine erwartbare und daher auch verständliche Reaktion auf die Nato-Osterweiterung, ist falsch.« Russland habe, so die Abgeordneten, unter anderem in der Schlussakte von Helsinki von 1975 oder der Nato-Russland-Grundakte von 1997 immer wieder das Recht zur freien Bündniswahl aller Staaten anerkannt.
Konfrontiert mit dieser Aussage schreibt Tatti: »Wer aber behauptet, es hätte nie Zusagen an Gorbatschow gegeben, die Nato nicht nach Osten auszuweiten, dem empfehle ich, sich mit der Zeit der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen zu beschäftigen.«
- Jessica Tatti im Interview darüber, warum die Friedensverhandlungen, die der ehemalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett zu Beginn des Krieges geführt hat, gescheitert sind: »Bennett sagte im Interview, diese Lösung sei nicht an Putin oder Selenskyj gescheitert, sondern an der Intervention von Großbritannien und den USA.«
Die Abgeordneten von SPD, FDP und Grünen schreiben dazu: »Der ehemalige israelische Premierminister Naftali Bennett hat nicht behauptet, dass Großbritannien und die Vereinigten Staaten im März 2022 einen Waffenstillstand verhindert hätten. Bennett selbst gab einem Kompromiss zwischen Russland und der Ukraine rückblickend eine 50-prozentige Erfolgschance. Die USA und Großbritannien seien deutlich skeptischer gewesen, hätten aber einem Waffenstillstand nicht im Weg gestanden. Es sei aber vor allem das Massaker von Butscha gewesen, bei dem mehrere Hundert ukrainische Zivilisten von russischen Truppen gefoltert und ermordet wurden, das weitere ukrainisch-russische Waffenstillstandsverhandlungen unmöglich gemacht hätten.«
Konfrontiert mit dieser Aussage, antwortet Jessica Tatti: »Zu Bennetts Initiative sprach ich von einer ›Chance für einen Friedensvertrag‹ und nicht davon, dass es sicher geklappt hätte. Selbst wenn die Chance, das Sterben und die Zerstörung der Ukraine zu beenden, nur bei 50 Prozent gelegen hätte, war es völlig verantwortungslos von Großbritannien und den USA, sie leichtfertig zu verspielen.«
- Die Abgeordneten der Ampel-Fraktionen im Land- und Bundestag werfen Tatti des Weiteren vor, die Verantwortung Russlands für den Krieg in der Ukraine zu relativieren.
Die Abgeordneten schreiben, Tatti lasse unerwähnt, dass »der russische Präsident in einem tiefnationalistischen und pseudohistorischen Essay 2021 die Existenz der Ukraine als eigene Nation infrage stellte und die Auffassung vertrat, dass die gegenwärtige Regierung des Landes von westlichen Verschwörungen gesteuert sei«. Zudem seien Frankreich und Deutschland jahrelang im Rahmen des Normandie-Formats für diplomatische Lösungen eingetreten. Außerdem sei Olaf Scholz sogar noch in der Woche vor dem Ukraine-Krieg nach Moskau gereist, um einen Kompromiss zu finden. Die Abgeordneten sind der Meinung, »dass Russland selbst momentan nicht bereit für Verhandlungen ist. Erst Mitte Januar hat Russlands Außenminister Lawrow Verhandlungen mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj eine klare Absage erteilt«.
Jessica Tatti erwidert darauf: »Ich weise die Unterstellung zurück, ich würde Russlands Verantwortung für den Krieg in der Ukraine relativieren. Mein erster Satz des Interviews lautete: ›Nichts rechtfertigt den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.‹« Und weiter: »Die Kolleginnen und Kollegen würden mit Unterstellungen arbeiten, und sich einer Debatte entziehen. Wenn die Kolleginnen und Kollegen der Ampel mit Unterstellungen arbeiten, entziehen sie sich jeder vernünftigen Debatte und können wohl nicht erklären, wie ihre Kampfpanzer, unwirksamen Sanktionen und Kriegsrhetorik zum Frieden führen.« Tatti fordert, die Abgeordneten von SPD, Grünen und FDP sollten die Bundesregierung dazu bringen, »sich endlich für Diplomatie und Verhandlungen einzusetzen, anstatt schräge Scheindebatten zu führen«. (GEA)