REUTLINGEN. »Die Lage ist ernst«, sagt die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, »es geht um ihre Generation.« Sie meint das überwiegend studentisch-junge Publikum in der Aula der ESB Business School in Reutlingen und verteidigt die Europäische Union »als größtes Friedensprojekt der Welt«. In ihrer Rede geht es um Europas Rolle in der Welt. An der ESB werden künftige Führungskräfte ausgebildet und auf die globalen Herausforderungen vorbereitet.
Die streitbare FDP-Verteidigungspolitikerin zieht es nun nach Brüssel. Sie ist die Spitzenkandidatin der Liberalen für den Europa-Wahlkampf. Manche meinen, sie sei dort »weg vom Fenster«, aber sie sieht das ganz anders. Sie will an Europas Zukunft bauen, das sei ihr als »überzeugte Europäerin« besonders wichtig. »Ich sehe das so, ich werde am Fenster sitzen und es auch aufmachen und die Stimme erheben.« Schon der Münsinger Andreas Glück, seit 2019 für die FDP im Europaparlament, brach in seiner Vorrede eine Lanze für Europa.
Besonnenheit nach Abhörskandal
Es war klar, dass sie bei ihrem Auftritt in Reutlingen nicht um den Abhörskandal herumkommen konnte. Nach dem Skandal um ein mutmaßlich durch Russland abgehörtes Gespräch deutscher Luftwaffenoffiziere hat die FDP-Politikerin Besonnenheit gefordert. Sie sei nicht überrascht gewesen, denn »das war ein klassischer hybrider Angriff auf die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland«. Deutschland befinde sich schon in einem Krieg im Cyber- und Informationsraum. »Wir müssen uns im Klaren sein, wie volatil wir an dieser Stelle sind.«
»Wir müssen uns davor hüten, die Geschichte des Täters zu erzählen«
»Deutschland, ganz Europa, wird seit Jahren hybrid angegriffen. In diesem Kontext geht es darum, liefern wir den Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine oder nicht. Just nach einer weiteren Diskussion im Bundestag ploppt das auf.« Personelle Konsequenzen müssten nicht gezogen werden, sagt Strack-Zimmermann, dafür aber technische. Putin will ihrer Meinung nach mit der gerade zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten Aufzeichnung des Gesprächs über »Taurus« zeigen, »er sieht und hört alles und uns signalisieren, dass er Deutschland und die europäischen Staaten, die die Ukraine unterstützen, schon längst als Feind definiert«.
Sie warnt davor, Putin auf den Leim zu gehen. »Wir müssen uns davor hüten, die Geschichte des Täters zu erzählen. Wenn man aus Opfern Täter macht, dann ist man auf einem falschen Planeten.« Diplomatie greift, wenn man sich an einen Tisch setzt, um zu verhandeln. Mit Putin ist das nicht möglich, weil er sein Ziel noch nicht erreicht hat.
Für Taurus-Lieferungen gestimmt
Die kampfstarke FDP-Politikerin und Spitzenkandidatin der Liberalen für den Europa-Wahlkampf Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat vor wenigen Tagen im Bundestag für einen Unionsantrag zu »Taurus«-Lieferungen in die Ukraine gestimmt. Sie ist mehr als nur unzufrieden mit der Ampel in der »Taurus«-Frage und hat als Vorsitzende im Verteidigungsausschuss ein deutliches Zeichen gesetzt. In der Ampel, speziell in der SPD, hätten immer noch nicht alle verstanden, dass »die Ukraine um unseren Frieden und unsere Freiheit und unsere Zukunft in Europa kämpft«. Weil es in den vergangenen Wochen Attacken auf deutsche Politiker gegeben hatte, waren Polizei und Sicherheitskräfte beim Auftritt der Düsseldorfer Politikerin besonders präsent.
Wenn von Zeitenwende die Rede ist, dann heißt das für die FDP-Frau mehr als nur die Bundeswehr zu stärken. »Wir müssen diese Zeitenwende auch annehmen, nicht mit Schaum vor dem Mund, nicht mit Schweiß auf der Stirn und auch nicht mit einer vollen Hose, sondern wir müssen uns nüchtern und realistisch darauf vorbereiten, dass es Systeme gibt, die unser freies Europa zerstören wollen.«
Keine Einstimmigkeit in Sicherheitsfragen
China habe Putin grünes Licht für den Überfall auf die Ukraine gegeben, »und jetzt schauen beide auf die Europäer, um zu sehen, ob sie in der Lage sind, sich zu verteidigen. Sind sie willens dazu, nehmen sie überhaupt die Gefahr wahr?« In den letzten Jahren sei das nicht wirklich wahrgenommen worden, sagt sie. Die Frage der Sicherheit sei von der ehemaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen in Europa nicht nach vorne geschoben worden. Sie fordert eine klare gemeinsame europäische Außenpolitik. Den Außenbeauftragten der EU, Josep Borrell, den schon Andreas Glück als Schwachpunkt sieht, nannte sie in Reutlingen einen »netten Mann«. Das allein reiche nicht. Und sie stellt klar: »In Sicherheitsfragen kann es kein Einstimmigkeitsprinzip geben.«
Strack-Zimmermann fordert einen europäischen Verteidigungsausschuss, in dem man sich Gedanken machen könne über Sicherheit, Verteidigung oder die gemeinsame Beschaffung von Material. »Mit Blick auf Amerika muss uns klar sein, auch wenn Joe Biden die Wahl gewinnt, dass unser Leben hier ein anderes wird, weil die Selbstverständlichkeit, irgendwo brennt die Hütte und die Amerikaner löschen das schon, vorbei ist. Die großen Krisen dieser Welt liegen vor unserer Haustür.«
Kein Aufschrei nach Putins Angriff 2014
Sie kritisiert, dass es nicht schon 2014 bei Putins Angriff auf die Krim-Halbinsel und den Donbass einen Aufschrei gegeben habe. Das habe Putin ihrer Überzeugung nach nur darin bestätigt, »dass diese Europäische Union nicht hinhören will und keine Stellung bezieht«. Das sei für den russischen Präsidenten damals die Blaupause für 2022 gewesen.
»Wenn wir nichts tun, wird das nicht der letzte Krieg gewesen sein«
»Ich unterstelle jedem, dass er in Frieden leben will, wir sind aber konfrontiert mit einer Lage, in der wir reagieren müssen. Wenn wir nichts tun«, prophezeit sie, »wird das nicht der letzte Krieg in Europa gewesen sein.« Das alles habe Putin schon 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz angekündigt. »Wir sollten besser hinhören, was die Diktatoren dieser Welt sagen.«
Sie sieht Putin auf Zeit spielen. »Er weiß, dass ist so anstrengend für uns, dass wir irgendwann nachlassen werden. Aber wir dürfen die Ukraine nicht alleine lassen, auch deshalb nicht, damit wir hier in Deutschland in Frieden und Freiheit leben können. Wenn wir jetzt zulassen, dass unsere freie Welt zerstört wird, werden Sie eine andere Zukunft haben«, sagte sie zu den Zuhörern in der ESB-Aula. (GEA)