STUTTGART/BERLIN. »Das ist politisches Totalversagen des Bundesinnenministeriums, das ist aus meiner Sicht ein moralischer Bankrott für unser Land.« Der Bochumer Bundestagsabgeordnete und Obmann der Grünen im Ausschuss für Menschenrechte, Max Lucks, geht mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hart ins Gericht, weil sie verstärkt ausgerechnet jesidische Flüchtlinge abschiebt. »Wir schieben diese Leute dorthin zurück, wo sie nicht sicher sind.«
Lucks wirft dem Bundesinnenministerium vor, aufgrund einer verschärften Asylpolitik ihre eigenen Versprechen zu brechen, um die Zahlen der Abschiebungen nach oben zu treiben. Im Bundestag sagte er, »unser Land schiebt zu oft die Falschen ab. Wir sprechen manchmal über Rückführungen, als gäbe es einen Überbietungswettbewerb der Zahlen, und vergessen dabei Schicksale, die so nicht passieren sollten.« Diese Abschiebungsstrategie muss verwundern, denn der Bundestag hatte im Januar 2023 die Verbrechen des IS an den Jesiden einstimmig als Völkermord anerkannt.
Schreiende Ungerechtigkeit
Auch andere Abgeordnete wie die CDU-Politikerin Serap Güler sind empört: »Ich halte das für einen unmöglichen Vorgang. Ich bin sehr, sehr darüber erschrocken und habe mich gewundert, dass das im Bundesinnenministerium überhaupt in Erwägung gezogen wird.« Die deutsche Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal, selbst Jesidin, nennt diese Abschiebungen bei X (früher Twitter) einen späten Sieg des IS (Islamischer Staat). Sie spricht in einem offenen Brief an Faeser von einer »schreienden Ungerechtigkeit«. Sie fordert den bundesweiten Abschiebestopp für Jesiden und einen Schutzstatus. Tekkal ist Vorsitzende und Gründerin des Hilfsvereins HÁWAR.help e.V. Mitunterzeichner des Briefs ist der Psychologe und Traumatologe Professor Jan-Ilhan Kizilhan. Er leitet das Institut für transkulturelle Gesundheitsforschung an der Hochschule Villingen-Schwenningen.
Hintergrund sind Schicksale wie das der jesidischen Familie Kheyri, die nach ihrer Flucht in Unterthingau im Allgäu eine neue Heimat gefunden hatte. Plötzlich tauchen an einem frühen Morgen Ende November 2023 während des Frühstücks Polizisten in der Wohnung auf und geben ihnen eine Stunde Zeit zum Packen. Es blieb kaum Zeit für einen Abschied. Die Eltern und die beiden kleinen Kinder, die beide nur Deutsch sprechen, werden zurück ins Jesidengebiet im Irak abgeschoben, obwohl dort nach wie vor weder die Lebensumstände gegeben sind, noch gibt es dort Sicherheit. Die beiden älteren Töchter dürfen vorerst bleiben, vielleicht deshalb, weil sie beide eine Ausbildung zu Pflegehelferinnen machen und Senioren in einem DRK-Wohnheim betreuen?
Die Familie war 2019 nach Deutschland gekommen, weil sie sich im Irak nicht mehr sicher fühlte. Nach wie vor treibt der IS dort sein Unwesen. 2014 beim Vormarsch des Islamischen Staates hatten die Terroristen einen Genozid an den Jesiden verübt. Jesiden sind eine religiöse Minderheit unter den Kurden. Fundamentalistische Muslime betrachten sie als »ungläubig« und »vom wahren Glauben abgefallen«. Über 10.000 Jesiden wurden nach dem Einfall des IS im Nordirak ermordet. Einen Teil der Jesiden trieben sie ins Sindschargebirge, wo es weder Schatten noch Wasser oder Nahrung gab. Viele kamen ums Leben. 7.000, vor allem Frauen und junge Mädchen, wurden versklavt. 400.000 flohen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten.
Der IS zündelt noch immer
Die Familie aus dem Allgäu ist kein Einzelfall mehr. Lucks meint, es liegt daran, dass die Bundesinnenministerin die Abschiebezahlen nach oben bekommen möchte. Aber das geschehe zulasten derjenigen, die am einfachsten greifbar sind, zulasten von tatsächlichen Opfern von Islamisten.
»Wir reden über Leute, die entweder selbst erleben oder miterleben mussten, wie Geschwister oder Familienangehörige vom IS entführt oder verschleppt wurden. Der Genozid an den Jesiden fand ja unter Beteiligung der Bevölkerung statt, und wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Sicherheitslage in der Region noch fragiler geworden ist. Wenn wir die Aktivitäten des Irans beispielsweise sehen oder die militärischen Aktivitäten der Türkei in der Heimatregion der Jesiden, dann ist das schon sehr bedrückend. Der IS zündelt noch immer in der Region. Außerdem werden Jesiden dort stark diskriminiert, von Mobs auf den Straßen verfolgt. Auch in den Camps für die Überlebenden des Genozids ist die Lage miserabel«, sagt Lucks. Die größte Gefahr allerdings komme vom iranischen Mullah-Regime, das die kurdische Autonomieregion im Nordirak strategisch destabilisiere.
Wieder existenziell bedroht
Düzen Tekkal, die sich immer wieder vor Ort im Jesidengebiet informiert, gibt zu bedenken, dass noch zehn Jahre nach dem Genozid an den Jesiden der Irak nicht befriedet und die Heimatregion der Jesiden unbewohnbar sei. »Hunderttausende leben noch immer in Camps in der Autonomen Region Kurdistan. Die Jesiden können nicht mehr kämpfen. Sie haben einen Völkermord überlebt und sind nun wieder existenziell in ihrer Lebensgrundlage bedroht.«
Im Mai 2023 vereinbarten Berlin und Bagdad Maßnahmen, mit denen eine vereinfachte Rückführung von Asylsuchenden in den Irak möglich werden sollte. Für Lucks ist klar: Wer integriert ist und hier arbeitet und eine Adresse hat, kann jederzeit zuhause angetroffen und abgeschoben werden. Letztlich bedeutet das, wer gut integriert ist und sich nichts zuschulden hat kommen lassen, der wird abgeschoben. »Das eigentlich Skandalöse daran ist ja, dass die Bedrohungslage nachgewiesen ist und dass die Behörden trotzdem nicht Abstand von diesen Abschiebungen nehmen.«
Faeser ist für ihn das rote Tuch. Sie sei auf diesem Ohr taub und völlig unzugänglich. »Bund und Länder könnten sich auf einen bundesweiten Abschiebestopp einigen, aber das geht natürlich nicht, wenn das Innenministerium nicht bereit ist, entsprechend administrativ zu handeln. Sie hat im Menschenrechtsausschuss einen Unterabteilungsleiter ausrichten lassen, dass sie eine Anerkennungsquote von 48,6 Prozent für Jesiden aus dem Irak für ausreichend halte.«
Das Parlament ist gefragt
Ein bundesweiter Abschiebestopp ist rechtlich sehr komplex und daher schwierig. Aus Sicht von Lucks ist nun das Parlament als Gesetzgeber gefordert, es könne dem nicht einfach zuschauen. Lucks schlägt für die Jesiden einen eigenen Paragrafen im Aufenthaltsgesetz vor, »das wäre der einfachste Weg«. Das wäre wohlbegründet: In unserem Land lebt die größte jesidische Diaspora der Welt. »2014, als der Völkermord geschah, haben wir einfach weggeschaut.« Ein Kompromiss, dem die anderen Fraktionen zustimmen könnten, wäre eine Stichtagsregelung. Gespräche dazu laufen.
Lucks räumt ein, dass die kommunalen Ausländerbehörden sich vielfach engagieren, um solche Abschiebungen zu vermeiden, und die Länder Nordrhein-Westfalen, Thüringen und Rheinland-Pfalz befristete Abschiebestopps für jesidische Frauen und minderjährige Kinder erlassen hätten. Allerdings müssten auch die Männer geschützt werden.
Diese Abschiebestopps gelten aber nur für drei Monate und dürfen nur einmal verlängert werden. »Und wir haben Länder, wo de facto keine Jesiden abgeschoben werden, beispielsweise in Bremen und Baden-Württemberg, ohne dass dort besondere Regelungen getroffen worden wären.« Als der Islamische Staat 2014 den Nordirak überfiel, hat die damalige grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg beschlossen, 1.000 Frauen und Kinder in einem Sonderkontingent aufzunehmen. (GEA)


