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Oettinger in Hülben: Unruhe ist Bürgerpflicht

Früherer EU-Kommissar fordert Agenda 2030. Sonst geht es mit Deutschland den »Bach runter«

Robin Morgenstern (links), der Vorsitzende des Regionalkreises der Familienunternehmer und Jungunternehmer Südwürttemberg, sowie
Robin Morgenstern (links), der Vorsitzende des Regionalkreises der Familienunternehmer und Jungunternehmer Südwürttemberg, sowie Festredner Günther Oettinger und der Chef der Paul Dümmel Werkzeugfabrik, Jochen Dümmel (rechts). FOTO: RAHMIG
Robin Morgenstern (links), der Vorsitzende des Regionalkreises der Familienunternehmer und Jungunternehmer Südwürttemberg, sowie Festredner Günther Oettinger und der Chef der Paul Dümmel Werkzeugfabrik, Jochen Dümmel (rechts). FOTO: RAHMIG

HÜLBEN. Deutschland und Europa benötigen eine Agenda 2030. Günther Oettinger (CDU) spielt damit auf die Agenda 2010 unter dem damaligen SPD-Kanzler Gerhard Schröder an. Das sei mutig und notwendig gewesen. Bei den Familienunternehmern/Jungen Unternehmern des Regionalkreises Südwürttemberg legte er den Finger in wunde Punkte der deutschen und europäischen Wirtschaftspolitik und europäischen Regelungsflut. Harte Kritik übte er an der Bundesregierung, »dort herrsche der größte Fachkräftemangel«. Deutschland sei nicht der Nabel der Welt, »aber wir nehmen uns heute so was von wichtig, laufen moralinsauer durch die Gegend und glauben, dass die Welt uns folgen muss«.

Oettinger sieht ein hartes Ringen zwischen den Modellen der Demokratie und Autokratie. »Mehr Menschen auf der Welt werden von Autokraten, Diktatoren, Verbrechern regiert als demokratisch regiert. Ob Demokratie auch in Zukunft genug Anziehungskraft haben wird, diese Frage ist offen.« Deutschland und seine Wirtschaft stünden angesichts der Vielzahl von Krisen vor enormen Herausforderungen. Doch dafür muss man auch entsprechend aufgestellt sein. »Im Kampf der Systeme müssen wir endlich erwachsen werden«, fordert er. »Wir sind als naive Idealisten und Ideologen unterwegs.« Ein Umdenken sei dringendst erforderlich. Es gebe größere Probleme als Gendern oder die Möglichkeit zum Hanfanbau auf dem Balkon.

Botox hilft nicht dagegen

Er empfiehlt, sich auf die wirklichen Interessen zu konzentrieren: Wohlstand erhalten, Arbeitsplätze erhalten, Deindustrialisierung stoppen. Deutschland blute kapitalmäßig aus. Die Investitionen aus deutschen Unternehmen im Ausland seien weitaus größer als die Investitionen des Auslands in Deutschland. Schrumpfen der Wirtschaft in Deutschland bedeute Wohlstandsverlust: »Sie schrumpfen, ich schrumpfe, Botox hilft nicht dagegen.« Eine neue Agenda ist ihm ein ganz wichtiges Anliegen: »Frieden, Werte, wirtschaftliche Stärke – eine Agenda 2030 für Deutschland und Europa.«

»Wir waren schon einmal der kranke Mann Europas«, sagt der 70-jährige Politiker in der Halle der Werkzeugfabrik Paul Dümmel GmbH, die von Jochen Dümmel inzwischen in vierter Generation geleitet wird. Baden-Württembergs Ex-Ministerpräsident und langjähriger EU-Kommissar für Energie, dann Digitale Wirtschaft und Gesellschaft und zuletzt Haushalt und Personal ist heute Geschäftsführer einer Unternehmensberatungsgesellschaft mit Sitz in Hamburg. »Das haben wir lange negiert, dann haben wir es analysiert, akzeptiert, reagiert und reformiert. Das war die Agenda 2010.« Heftige Kritik übte er angesichts des Arbeits- und Fachkräftemangels an der Rente mit 63, der Verringerung der Wochenarbeitszeit und dem geplanten Recht auf Homeoffice. »Wie soll die Karre weitergehen? Die Rente wird nicht mehr finanzierbar.«

»Uns gehen die Menschen aus.« Mit Blick auf die durchaus qualifizierten Ukraineflüchtlinge bemängelt er, dass »wir es noch immer nicht schaffen, sie in großer Zahl in den Arbeitsprozess zu bekommen«. In der Gastronomie, im Handwerk, in der Verwaltung, in Pflegeberufen, überall fehlten Arbeitskräfte. »Da könnte man doch eher auf die Idee kommen zu sagen, sie sollten ein bisschen mehr in der Woche und im Leben arbeiten.«

Doch darüber wird laut Oettinger nicht diskutiert, stattdessen füge sich die Mehrzahl dem Zeitgeist. »Unruhe ist Bürgerpflicht«, appelliert er deshalb in Hülben an die Unternehmer der Region und nimmt damit den Appell des Regionalvorsitzenden der Familienunternehmer/Jungen Unternehmer, Robin Morgenstern (Morgenstern AG), auf. Dieser hatte in der Einführung zum Vortrag dazu aufgerufen, sich in der Politik bemerkbar zu machen: »Wir gehen nicht auf die Straße oder fahren mit dem Trecker nach Berlin, aber wir müssen hörbarer werden.«

Was die Demokratie gefährdet

Für Oettinger heißt das, sich auch in Brüssel mehr zu zeigen, sich bemerkbar zu machen, sich auch in der Politik zu engagieren. Und es heißt für ihn: »Wir brauchen eine neue Agendapolitik, damit der Standort wieder wettbewerbsfähig wird.« Der Rückgang der gerade in Baden-Württemberg extrem wichtigen Autoindustrie mache ihm Angst. »Es geht den Bach runter – schneller, als alles von Eltern und Großeltern aufgebaut wurde.« Das sei nicht mehr akzeptabel.

Zu einer Agenda 2030 gehöre es, durch Innovationen, Patente, Bildung und Weiterbildung wieder einen Vorsprung durch Technik herzustellen, »sonst wird unser Wohlstand nicht zu erhalten sein«. Das Potenzial sei da, werde aber nicht ausgeschöpft. »Wenn wir uns nur um Gendersternchen, Work Life Balance und das Recht auf Homeoffice kümmern – die Couch ist des Deutschen beliebtester Vierbeiner« – gelingt das laut Oettinger nicht. Nur 30 Prozent aller Arbeitsplätze seien überhaupt homeofficefähig, sagt er. Die Brötchen würden eben nach wie vor in der Backstube gebacken und nicht im Wohnzimmer.

Die Bürger würden einen Zusammenhang zwischen Wohlstandsverlust und Migration herstellen. »Sie sehen, dass Migration nicht wirklich gesteuert oder kontrolliert wird, und wenn gesteuert, dann von Verbrechern wie Lukaschenko oder Putin.« Das gefährde die Demokratie, schaffe Chancen für Populisten und ganz Rechte und Linke.

Das Lieferkettengesetz nennt er eine deutsche Erfindung, die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen – »die ich eingeschränkt schätze« – zum europäischen Thema gemacht habe. Zuvor hatte schon Robin Morgenstern die zahlreichen Verordnungen auf allen Ebenen und die damit einhergehende Bürokratieflut kritisiert. Die Lieferkettenrichtlinie bezeichnete er als völlig welt- und praxisfremd, und die Nachhaltigkeitsberichtspflicht schaffe nur Unklarheit und Unsicherheit.

Oettinger nennt Brüssel und die EU »eigentlich sehr transparent, man muss sich nur dafür interessieren und dort mit Abgeordneten und deutschen Beamten sprechen. Wenn wir die Welt von morgen ein bisschen mitgestalten und regeln wollen und Standards und Normen setzen, dann geht das nur im europäischen Team.« Gemeinsam sei Europa stark. Mit Blick auf Deutschland in seinem gegenwärtigen Auftreten sagt er: »Es gibt in Europa zwei Gruppen von Ländern: Diejenigen, die klein sind, und diejenigen, die wissen, dass sie klein sind.« Nur gut abgestimmt und auf europäischer Ebene sieht er Deutschland und die EU im Wettbewerb der Mächte erfolgreich. (GEA)