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Krisenland Jemen: Alleingelassen in höchster Not

Im Jemen herrscht die größte humanitäre Krise der Welt. Seit Kürzung der Hilfsgelder ist die Lage außer Kontrolle.

Foto: nicht angegeben
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SANAA/BERLIN. Der Jemen wird nach sechs Jahren Krieg einfach ignoriert. »Es ist beschämend, dass die Welt die Hilfe kürzt, wenn Kinder Blätter essen, weil sie nicht genug zu essen haben«, sagt Muhammad Zulqarnain Abbas. Er ist im Jemen Programmdirektor der islamischen Hilfsorganisation Islamic Relief. Mütter, die selbst hungrig sind, tragen ihre Kinder kilometerweit, um auf der Suche nach Hilfe in eines der von Islamic Relief betreuten Ernährungs- und Gesundheitszentren zu gelangen. »Die Welt lässt sie allein in ihrer größten Not«, beklagt Abbas.

Auch die Hilfsorganisationen Save the Children und Handicap Internationale warnen: Neue Gewalt und damit eine Verschärfung der Hungersnot bedrohen die Kleinsten und Schwächsten im Jemen. Im Süden der Arabischen Halbinsel tobt seit sechs Jahren ein Bürgerkrieg. Er hat in dem ohnehin armen Land nach Angaben der Vereinten Nationen die größte humanitäre Krise der Welt ausgelöst. 20 Millionen Menschen, zwei Drittel der Bevölkerung, sind nach UN-Schätzung auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Einer Studie von »Save the Children« zufolge ist jedes vierte zivile Opfer der Kämpfe im Land ein Kind. 1,8 Millionen Kinder unter fünf Jahren seien mangelernährt, zwei Millionen Kinder gingen nicht zur Schule. Sechs Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs im Jemen hat ein Großteil der Menschen nicht mehr genügend Geld, um sich etwas zu essen zu kaufen. 60 Prozent der Bevölkerung können sich keine Grundnahrungsmittel mehr leisten, wie aus einer Umfrage des International Rescue Committees (IRC) hervorgeht. Grund sei ein – auch kriegsbedingter – enormer Preisanstieg.

»Die humanitäre Lage im Jemen war noch nie schlimmer«

Im Jemen kämpfen die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen gegen eine Regierung, die von Saudi-Arabien an der Macht gehalten wird. Riad rüstet deren Truppen auf und gibt Geld. Die saudische Luftwaffe fliegt Luftangriffe, bei denen auch viele Zivilisten und Kinder ums Leben kommen. Militärisch herrscht dort eine Pattsituation vor – mit leichten Vorteilen für die Huthi-Rebellen. Die Huthi kontrollieren große Teile des Jemen, darunter die Hauptstadt Sanaa. In den vergangenen Wochen rückten sie in der ölreichen Provinz Marib weiter vor.

»Dieser Krieg muss enden«, erklärte der neue US-Präsident Joe Biden. Er kündigte an, die amerikanische Unterstützung für die saudische Offensive im Jemen zu beenden. Das Leid der Zivilbevölkerung müsse ein Ende haben. Vermutlich deshalb hat Saudi-Arabien zu Wochenbeginn eine sofortige Waffenruhe für das Bürgerkriegsland vorgeschlagen. Zudem bot Riad direkte Gespräche zwischen der jemenitischen Regierung und den Huthi-Rebellen an. Die Huthi stellen aber ihrerseits Bedingungen, ohne die sie einem solchen Vorschlag nicht zustimmen werden. Sie fordern von saudischer Seite die sofortige Einstellung der Kämpfe und das Ende der Blockade des Jemen.

Die Hilfe für den Jemen lässt unterdessen dramatisch nach. Bei der UN-Geberkonferenz kamen nur noch 1,7 Milliarden Dollar an Spenden zusammen. Diese Summe deckt weniger als die Hälfte des tatsächlichen Bedarfs, heißt es bei der Diakonie Katastrophenhilfe in Berlin. »Die humanitäre Lage im Jemen war noch nie schlimmer«, sagte UN-Generalsekretär António Guterres zu Beginn der Konferenz. Dennoch seien die Spenden zurückgegangen – mit »brutalen« Folgen. Organisationen, die Wasser, Lebensmittel und medizinische Hilfe liefern, hätten ihre Arbeit einschränken oder ganz einstellen müssen. Der Jemen, Südsudan und der Norden von Nigeria führen die Liste der von akutem Hunger ganz besonders bedrohten Staaten und Regionen an. Die Food and Agricultural Organization (FAO) und das UN World Food Programme (WFP) schrieben in ihrem »Hunger Hotspots-Bericht«, dass Familien in Teilen des Jemen von Hunger und Tod bedroht seien. Im Jemen werden die anhaltende Gewalt und der wirtschaftliche Niedergang sowie die schwerwiegenden Unterbrechungen der humanitären Hilfe in den kommenden Monaten wahrscheinlich anhalten.

Die Zahl der unterernährten Kinder, die in von Islamic Relief unterstützten Ernährungszentren im Jemen aufgenommen werden, hat sich in den letzten drei Monaten fast verdoppelt, weil die internationale Hilfe so drastisch gekürzt wurde. In den Hilfszentren ist die Zahl der unterernährten schwangeren Frauen und jungen Mütter, die Hilfe suchen, um 80 Prozent gestiegen.

Dr. Asmahan Albadany, der Koordinator des Ernährungsprogramms von Islamic Relief in Hodeidah, im Westen des Jemen am Roten Meer, sagt: »Die Situation ist außer Kontrolle geraten, seitdem die Nahrungsmittelhilfe halbiert wurde.« Es sei herzzerreißend zu sehen, »wie dünn die Kinder sind, sie sind nur Haut und Knochen«.

Er schildert: »Wir hatten kürzlich einen dreijährigen Jungen, der nicht auf die Behandlung reagierte. Wir gaben ihm medizinische Versorgung für zwei Monate, aber sein Zustand verschlechterte sich weiter. Deshalb schickte ich ein Team zu ihm nach Hause, um Nachforschungen anzustellen. Die Mutter sagte uns, sie musste die Medizin verkaufen, um Mehl zu kaufen und ihre anderen Kinder zu ernähren. Sie musste sich entscheiden, ob sie einen oder die anderen retten wollte.«

»Wie dünn die Kinder sind, sie sind nur Haut und Knochen«

Die Folgen des massiven Bomben- und Granatbeschusses von Wohngebieten im Jemen seien verheerend. Viele Städte sind laut Handicap International mit Blindgängern und nicht explodierten Sprengkörpern verseucht. Auch Landminen liegen herum. Das Ausmaß der Zerstörung sei erschütternd und die Rückkehr der Bewohner in ihre Wohnorte extrem gefährlich. Nach Kriegsende werden nach Auffassung von Handicap jahrelange und komplexe Räumungsaktionen erforderlich sein. Angesichts Tausender Toter, großem Leid und massiver Schäden im Jemen fordert Handicap die Staatengemeinschaft auf, eine internationale Erklärung gegen die Bombardierung von Wohngebieten zu unterstützen.

Rund 233 000 Menschen starben aufgrund des Konflikts – einige als direkte Opfer der Gewalt, andere an den indirekten Folgen des Konflikts, wie zum Beispiel der mangelhaften Gesundheitsversorgung und schmutzigem Wasser. Viele Gesundheitseinrichtungen und Wasserversorgungssysteme wurden bei Bombardierungen und durch Beschuss weitgehend zerstört. Es herrscht Lebensmittelknappheit aufgrund des zerstörten Straßennetzes, das den Transport von Waren unmöglich macht. Viele Familien wurden in den letzten Jahren bereits mehrfach vertrieben. (GEA)