Die Welt steht unter Schock. Aber für Schockstarre ist keine Zeit. Und Panik ist – wie Angst – ein denkbar schlechter Ratgeber. Jetzt, wo es in erster Linie darum geht, die Nerven zu behalten. So schwer das auch fällt. Denn es ist alles sehr unwirklich, man mag und will es kaum glauben. Über die Schlachtfelder und Toten des »Großen Vaterländischen Krieges« – so nennen die Russen den Zweiten Weltkrieg – walzen die Panzer hinweg. Dort, wo die Rote Armee in erbitterten Kämpfen die Wehrmacht zurückschlug. Allein um Charkow tobten drei Schlachten. Jetzt ist der Krieg zurück auf dem blutgetränkten ukrainischen Boden. Eine Tragödie.
Doch wer wegen Putins Angriff aus allen Wolken zu fallen scheint, muss erkennen, wie perfide und verlogen die Inszenierung war. Seine Agenda ist klar: Krieg. Nüchternheit ist nun gefragt, endlich eine klare Strategie – aber auch eine schonungslose deutsche Selbstanalyse.
Was ist geschehen: In Putins Gedankenwelt hat der russische Bär die Ketten gesprengt. Er ist ausgebrochen, bäumt sich auf, trommelt stolz mit den Pranken auf seiner Brust, fletscht die Zähne und lehrt die Welt brüllend das Fürchten. Drei Möglichkeiten gibt es: Sich ihm tapfer entgegenstellen und kämpfen, zumindest Zeit gewinnen. Aufgeben und Kehle hinhalten. Oder Flucht.
Es gibt aber noch Szenario Nr. 4: Ihn enger und enger einzäunen, isolieren, bis aus dem Zaun ein Käfig wird. Ihm die Beute nehmen und dann den Napf. Bis er schwach und schwächer wird. Putin geht mit der Invasion volles Risiko. Sein lange ausgeheckter Plan greift perfekt in der Gegenwart. Aber langfristig wird – MUSS! – ihm die Luft ausgehen. Das ist nunmehr alternativlos. Und liegt an uns: einem geschlossenen westlichen Bündnis. An Deutschland, das sich und seine Rolle in der Welt endlich und verdammt noch mal hinterfragen und definieren muss. Nur die Raute zeigen, das reicht bei Windstille und leichter Brise. Im schwersten Sturm ist anderes Handwerk gefragt. Leider, aber wahr: Dazu gehört auch der Finger am Abzug.
Was ist bei uns passiert? Hört man in die Truppe, dann wurde unsere Bundeswehr nach der Ministerzeit von Volker Rühe in Schleichfahrt zu einer Farce degradiert. Zur Erinnerung: Wir reden von 1998. Die wertvolle Wehrpflicht wurde abgeschafft. Ohne straffen Plan B. Deutsche U-Boote sind zeitweise nur Boote, weil sie nicht tauchen können. Aus der Gorch Fock wurde die Gorch Dock. Ja, ein schlechter Witz. Und mieser als die Ausrüstung der Armee ist nur noch die Stimmung. Unsere Armee steht oft da wie mit der Eselsmütze in der Ecke. Ernst genommen beinahe nur noch von denen, die sie eh am liebsten ganz abschaffen würden. Ein Trauerspiel.
Und die deutsche Außenpolitik? Sonnte sich darin, als diplomatischer Schoßhund in Moskau »vermitteln« zu dürfen. Aus alter Verbundenheit. Eure Harmlosigkeit im Thronsaal des zynischen KGB-Zaren. Über die Ostsee legten wir uns selbst an die Hundeleine »Nord Stream 2«. Viel zu spät streifen wir es ab, das Drosselhalsband. Putin konnte viel zu lange tun und lassen, was er wollte – und sitzt am Kontrollpult für die Erpressung mit den russischen Ressourcen.
Warum ausgerechnet das Hoffnung macht? Der Kriegstreiber mit der Sowjet-DNA hat seine Rechnung ohne die Marktwirtschaft gemacht. Ausgerechnet der verachtete Kapitalismus wird Lösungen für die Energiefragen finden. Ganz sicher. Weil jetzt endlich der nötige Druck für Innovationen im Kessel ist. Wenn im Westen die politischen und militärischen Hausaufgaben gemacht werden bei der Nato, vor allem aber bei der EU, dann wird der Despot, der einst vergeblich um die Hand der Nato anhielt, ins Hecheln kommen. Eines Tages stellt sich die Frage, ob er ausgepumpt den Schwanz einzieht oder weiter das ultimative Fanal sucht, wenn die geeinte Meute um ihn herum bellt. Nur nicht komplett die Nerven verlieren. Auf beiden Seiten. Alles ist sehr zerbrechlich. Eine harte Prüfung. (GEA)