LONDON. Der britische Premierminister Rishi Sunak rudert beim Klimaschutz zurück und will wichtige Etappenziele abschwächen. In Großbritannien ist es seit 2019 gesetzlich festgeschrieben, dass das Land bis 2050 klimaneutral werden muss. Doch es sei nie ehrlich debattiert worden, beklagte Sunak in einer Rede in der Downing Street, wie der Weg dahin aussehen soll. Jetzt befände man sich auf einem Weg, »der bedrängten britischen Familien unakzeptable Kosten auferlegt«. Um das Endziel von »Net Zero«, der Klimaneutralität, nicht zu gefährden, sei es entscheidend, »die Leute mitzunehmen«. Daher müsse ein pragmatischer Kurs her, begründete der Premier seine Kurskorrektur.
Verbrennerverbot später
Sunak kündigte an, dass das Verkaufsverbot für neue Autos mit Verbrennermotoren nicht schon ab 2030, sondern erst ab 2035 gelten soll. Auch das Installationsverbot von neuen Gas- oder Ölheizungen wird von 2026 auf 2035 verschoben. Schließlich sollen die geplanten Vorschriften für die Energieffizienz von Wohnungen und Häusern entfallen und weiterhin Gas- und Ölförderungen in der Nordsee stattfinden können. Sunaks Statement hat einen Sturm des Protests bei Umweltschützern und in der Wirtschaft ausgelöst, aber der Premierminister will eine scharfe Trennlinie zu Labour ziehen. Seine Rede, urteilte die Kommentatorin Beth Rigby, ist »der Startschuss für eine sehr lange Wahlkampagne«.
Noch am Montagnachmittag hatte Verkehrsminister Mark Harper gegenüber Vertretern der Autoindustrie am Ziel von 2030 festgehalten. Die überraschende Kehrtwende hat in der Branche Verwunderung bis Entsetzen ausgelöst. Die Ford-Direktorin Lisa Brankin sagte, dass die Industrie »drei Dinge von der britischen Regierung braucht: Ambition, Engagement und Konsistenz. Eine Verwässerung des 2030-Ziels würde alle drei untergraben«. Mark Hawes vom Automobilherstellerverband SMMT klagte, dass Autofahrer entmutigt werden, zu elektrischen Fahrzeugen zu wechseln: »Verwirrung und Unsicherheit wird sie nur bremsen«. Der Toyota-Konzern allerdings nannte Sunaks Entscheidung »pragmatisch«.
Der Premierminister verteidigte seinen Schritt am Donnerstag in einem Meinungsbeitrag im Massenblatt »Sun« und hielt ausdrücklich am Ziel der Klimaneutralität bis 2050 fest. »Ich treffe eine langfristige Entscheidung, um unsere Verpflichtung in einer besseren Weise zu erfüllen«, schrieb er. Freilich weiß er auch, dass eine Kurskorrektur ihm Wählerstimmen verschaffen kann. Die braucht er dringend. Seine Konservative Partei liegt in den Meinungsumfragen regelmäßig um 15 bis 20 Prozent hinter Labour. Und wie potent eine klare Botschaft bei Mehrkosten für den Umweltschutz ist, hat eine kürzliche Nachwahl zum Unterhaus in Uxbridge, Nordlondon, gezeigt. Dort machte der konservative Kandidat Steve Tuckwell Wahlkampf mit nur einer Message: Protest gegen die Niedrigstemissionszone Ulez, die der Londoner Labour-Bürgermeister Sadiq Khan auf die Außenbezirke ausweiten wollte. Tuckwell gewann. Uxbridge wurde zum Plebiszit über eine Umweltpolitik, die den Leuten einfach zu teuer wird. Die Aussicht, fast 15 Euro täglich zahlen zu müssen, wenn man mit einem Auto älterer Bauart unterwegs ist, hatte die Wähler zu den Konservativen zurückgetrieben.
Stimmung bei Bevölkerung
Ob sich Sunaks gleichgelagerte Hoffnungen für die bis spätestens Ende 2024 stattzufindenden Wahlen erfüllen, ist dahingestellt. Labour gelobt, im Fall eines Sieges das Aus für Verbrennerautos wieder auf das Jahr 2030 zu terminieren. Er freue sich geradezu, sagte der Schattenminister für Klimaschutz Ed Miliband, »einen Wahlkampf über Net Zero zu führen«. Die Umfragen sind widersprüchlich. Eine Meinungserhebung von YouGov von Ende Juli zeigte, dass eine klare Mehrheit von 71 Prozent der Briten eine Klimaneutralität bis 2050 unterstützen. Doch das Bild wird unklarer, wenn sie über die nötigen Schritte befragt werden. Da finden es zum Beispiel nur noch 42 Prozent gut, dass neue Verbrenner-Autos schon ab 2030 verboten werden sollen. Und mehr als die Hälfte der Bevölkerung, 55 Prozent, gab an, »zusätzliche Kosten für normale Leute« für die Erreichung von Net Zero nicht akzeptieren zu wollen. Sunaks Kurskorrektur beim Klimaschutz ist wahlpolitisch riskant, urteilten am Donnerstag die Kommentatoren. Aber angesichts der miserablen Popularitätswerte der Regierung wohl einen Versuch wert. (GEA)