STOCKHOLM. Als die schwarzen Busse der Delegation von Bundeskanzler Olaf Scholz für einen Zwischenstopp die enge Straße in der Stockholmer Innenstadt blockieren, bleiben die schwedischen Autofahrer dahinter geduldig. In der deutschen Hauptstadt wäre die Blockade mit einem lauten Hupkonzert quittiert worden, nicht so bei den in sich ruhenden Schweden. Die Ausgeglichenheit allerdings hat Grenzen, beispielsweise dann, wenn es um die Sicherheit des Landes geht. Jahrelang wollten die Schweden von einem Nato-Beitritt nichts wissen, seit März sind sie Mitglied der Militärallianz. Im Jahr 2010 setzte das Land die Wehrpflicht aus, rund ein Jahr früher als Deutschland. Vor sieben Jahren machten die Schweden einen Schritt, den nun auch Deutschland wohl gehen wird: Sie setzten die Wehrpflicht wieder ein.
Schutz des eigenen Landes
Scholz reiste nicht wegen der Wehrpflicht nach Stockholm. Am Montag nahm er am Treffen des Nordischen Rates teil, am Dienstag traf er vor seiner Rückreise nach Berlin den schwedischen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson, beide unterschrieben unter anderem eine erneuerte Innovationspartnerschaft zwischen beiden Ländern. Doch über jedem Treffen von Regierungschefinnen und Regierungschefs schwebt die Bedrohung, die vom Einmarsch der Russen in die Ukraine ausgeht. Immer wieder drehen sich die Gespräche, so auch bei diesem Scholz-Besuch, um die Unterstützung für die Ukraine. Der nächste Gedanke der Regierenden gilt dann dem Schutz des eigenen Landes.
Schweden scheint da weiter zu sein als Deutschland. Das Land arbeitet in einem ganzheitlichen Ansatz an seiner Widerstandsfähigkeit, die Resilienz-Strategie gegen die Bedrohung von außen bezieht die Gesellschaft mit ein. Das geht bis hinein ins Private. In nahezu allen Haushalten, berichten Einheimische, stehen Stromaggregate, werden Wasser- und Lebensmittelvorräte für einen Notfall gebunkert. Seit 2015 gibt das Land wieder viel Geld für seine Verteidigung aus, nachdem es seine Militärausgaben zuvor zwei Dekaden lang massiv zurückgefahren hat. Einen Haushaltsstreit nebst erregter öffentlicher Debatte über die Finanzierung, wie ihn Deutschland gerade erlebt, gibt es in Schweden nicht.
Ministerpräsident Ulf Kristersson erklärte bei der Abschluss-Pressekonferenz, es sei grundsätzlich nicht immer einfach, genügend Soldaten zu finden. »Aber in Schweden haben wir ein Modell gefunden, das funktioniert.« In der Gesellschaft sei die Wehrpflicht »gut angesehen«, bekräftigte Kristersson und machte deutlich, dass dies auch für den Zivildienst gelte.
Die Wehrpflicht ist nicht einfach nur akzeptiert im hohen Norden. Ein ranghoher Militär erzählt am Rande des Scholz-Besuchs, dass viele junge Menschen stolz seien, dem Land dienen zu können. Das mehrstufige Auswahlverfahren beginnt ganz altmodisch mit einem Stück Papier, das den internetaffinen Auserwählten per Post zugestellt wird. An seinem Ende werden jedes Jahr ein paar Tausend Männer und Frauen eingezogen. Das Prozedere wird eher als Wettbewerb empfunden, nicht als Last. Der Ukraine-Krieg und die Angst davor, dass der russische Präsident Wladimir Putin weitere Länder angreift, sorgen für einen stabilen Zufluss zur schwedischen Armee.
Kein Wunder, dass der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius das schwedische Modell favorisiert. Das jedenfalls legen die Wasserstandsmeldungen nahe, die aus seinem Ministerium nach außen dringen. Einen offiziellen Vorschlag will der SPD-Politiker Ende des Monats präsentieren.
Akzeptanz in der Gesellschaft
Scholz spricht in Stockholm von einer »Aufgabe, die überschaubar ist« und zu bewältigen sei. Etwa 20.000 Soldatinnen und Soldaten bräuchte die Bundeswehr jedes Jahr, um die Lücke zu füllen, die sich zwischen dem Ist-Zustand von etwa 180.000 und dem Soll-Zustand von rund 200.000 Einsatzkräften auftut.
Für Scholz ist klar, dass es nicht um die Dimensionen früherer Wehrpflicht-Armeen geht. Vor der Aussetzung des verpflichtenden Dienstes etwa gehörten knapp 260.000 Soldaten der Truppe an. Das, so Scholz auch mit Blick auf die abgebaute Logistik beispielsweise bei den Kasernenkapazitäten, »würde nicht mehr funktionieren«.
Einfach wird aber auch die neue Wehrpflicht nicht umzusetzen sein. Schon jetzt gibt es Kritik, einige Stimmen mahnen, dass eine Verpflichtung den Mangel nicht beheben könne und es mehr Reservisten brauche. Lange Debatten im Bundestag sind zu erwarten, wenn Pistorius das von ihm favorisierte Modell vorstellt. Vor allem muss die neue Wehrpflicht von der Gesellschaft akzeptiert sein, sonst wird sie kaum funktionieren. So wie in Schweden eben. Ob die Deutschen in der Diskussion darüber die notwendige Geduld aufbringen, wird sich zeigen. (GEA)