REUTLINGEN. Die Reutlinger Bundestagsabgeordnete Jessica Tatti glaubt nicht, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen kann. Auch deshalb hat sie das umstrittene »Manifest für den Frieden« von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht unterschrieben. Warum sie an die Macht von Verhandlungen glaubt und gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ist, erklärt die Linken-Politikerin im GEA-Interview.
GEA: Heute jährt sich der Überfall Russlands auf die Ukraine. Aus linken Kreisen hört man immer wieder die These, dass Russland diesen Krieg auch begonnen habe, weil es sich von der Nato bedroht fühlte. Stimmen Sie dem zu?
Jessica Tatti: Nichts rechtfertigt den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Doch auch dieser Krieg hat eine Vorgeschichte. Es gab seitens der Nato Versprechungen an Michail Gorbatschow, die Nato nicht nach Osten auszudehnen. Nachdem Gorbatschow die politische Bühne verlassen hatte, hielt man sich nicht mehr daran. Und es ist nicht nur so, dass sich die Nato nach Osten hin ausgedehnt hat. Damit wurden auch Militärbasen immer weiter östlich stationiert. Man hätte sich denken können, dass sich Russland hierdurch bedroht fühlt.
»Der Krieg kann nur am Verhandlungstisch beendet werden«
Sie haben den Krieg gegen die Ukraine nun schon mehrfach verurteilt. Dennoch fordern Sie, der Ukraine keine Waffen mehr zu liefern. Warum?
Tatti: Ich bin der Überzeugung, dass der Krieg militärisch für die Ukraine nicht zu gewinnen ist. Das sagen auch hochrangige Militärs. Der Krieg kann nicht mit Waffenlieferungen, sondern nur am Verhandlungstisch beendet werden. Nur so kann ein langjähriger Abnutzungskrieg, der Tod von weiteren Zehntausenden und die weitere Zerstörung der Ukraine verhindert werden. Denn was soll denn nach den Kampfpanzern kommen? Kampfflugzeuge? Diese Eskalationsspirale muss gestoppt werden.
Die Bundesregierung vertritt die Ansicht, dass die Ukraine ohne Waffenlieferungen den Krieg verlieren würde. Und das will man unbedingt verhindern. In der Bundesregierung glaubt man auch, dass die Gefahr einer weiteren Eskalation durch Waffenlieferungen sehr gering ist. Was sagen Sie zu dieser Einschätzung.
Tatti: Ich halte sie für falsch. Waffenlieferungen verlängern den Krieg und heizen ihn weiter an. Russland ist eine Atommacht, erstes Ziel muss sein, die Gefahr einer atomaren Auseinandersetzung zu bannen. Ich habe nicht die Möglichkeit, Russland zum vollständigen Abzug der Truppen zu zwingen, was natürlich das Beste wäre. Ich habe aber die Möglichkeit, die Bundesregierung aufzufordern, dass sie sich für einen Verhandlungsfrieden einsetzt, anstatt einfach immer schwerere Waffen zu liefern und ein nutzloses Sanktionspaket nach dem anderen auf den Weg zu bringen. Dadurch wird kein Ende des Krieges eingeleitet, sondern er wird eskaliert.
Damit folgen Sie der Linie des »Manifests für den Frieden« von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, das Sie auch unterschrieben haben. Viele sagen aber, mit Putin könne man nicht verhandeln. Sind Ihre Forderungen nach Verhandlungen nicht naiv?
Tatti: Aus meiner Sicht gibt es keine Wahl. Man muss mit Putin verhandeln. Es gibt doch auch Gesprächskanäle bezüglich der Getreideabkommen oder des Gefangenenaustauschs. Diese Gesprächskanäle muss man ausbauen. Der Verhandlungsweg ist steinig. Aber er ist der einzige Weg zum Frieden.
Putin hat den Westen in diesem Krieg aber schon häufig angelogen. So hat er sich auch nicht an das Minsker Friedensabkommen zur Beendigung des Krimkriegs gehalten. Warum sollte das nun anders sein?
Tatti: Es gab ja bereits Verhandlungen, zum Beispiel im vergangenen Frühjahr, die vom ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett geführt wurden. Er sagte, es gab eine Chance für einen Friedensvertrag. Im Gespräch war, dass die Ukraine neutral bleibe und nicht der Nato beitrete und Russland sich hinter die Linien vor dem 24. Februar 2022 zurückziehe. Bennett sagte im Interview, diese Lösung sei nicht an Putin oder Selenskyj gescheitert, sondern an der Intervention von Großbritannien und den USA.
Aber welches Interesse sollten Großbritannien und die USA daran haben, dass es keinen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine gibt?
Tatti: Das ist die Frage. Es gibt keinen einzigen legitimen Grund dafür. Ich will hier keine wilden Vermutungen anstellen. Bennett hat das nicht weiter vertieft. Sein Wortlaut war: »The west blocked it.« Und man muss die Frage schon stellen, warum es nicht längst ernsthafte Friedensinitiativen seitens des Westens gibt. Dagegen hat sich zum Beispiel der brasilianische Präsident Lula schon für Friedensverhandlungen angeboten. Dem muss man sich doch anschließen.
»Man muss die Frage stellen, warum es nicht Friedensinitiativen seitens des Westens gibt«
Es wird immer wieder gesagt, dass die Ukraine ja selbst unter den aktuellen Umständen nicht verhandeln will. Muss man da nicht das Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Volkes respektieren, das mehr Waffen zur Selbstverteidigung fordert?
Tatti: Selbstverständlich hat die Ukraine ein völkerrechtlich verbrieftes Recht auf Selbstverteidigung. Man muss aber auch die Kosten dieses Krieges anschauen. Es sind bereits Zehntausende Menschen gestorben. Es könnten weitere Zehntausende sterben. Die Infrastruktur des Landes wird zerbombt. Dritte können Selenskyj nicht zu Verhandlungen zwingen. Aber gerade wer schon so schwere Waffen geliefert hat, hat jetzt erst recht die Verantwortung, auf den Verhandlungsweg zu drängen.
»Es ist ärgerlich, dass auch AfD-Chef Tino Chrupalla das Friedensmanifest unterschrieben hat«
Die Friedensmanifest-Autorinnen Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer haben für den morgigen Samstag zu einer Friedenskundgebung am Brandenburger Tor aufgerufen. Einige rechte Gruppierungen haben angekündigt, ebenfalls bei dieser Veranstaltung teilnehmen zu wollen. Werden Sie teilnehmen?
ZUR PERSON
Jessica Tatti (42) ist seit 2017 Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linken für den Wahlkreis Reutlingen. Im Bundestag gehört sie dem Ausschuss für Arbeit und Soziales an und ist Sprecherin der Linkspartei für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Zuvor war Tatti drei Jahre lang im Gemeinderat der Stadt Reutlingen vertreten. (geu)
Tatti: Ich unterstütze das Manifest und werde am Samstag in Berlin sein. Inzwischen haben mehr als 600 000 Menschen die Petition unterschrieben. Darunter sind Dutzende namhafte Persönlichkeiten wie Willy Brandts Sohn, der Historiker Peter Brandt, Armutsforscher Christoph Butterwegge oder auch Sozialmediziner Gerhard Trabert, die beide für Die Linke für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert haben. Es ist verdammt ärgerlich, dass auch AfD-Chef Tino Chrupalla unterschrieben hat, und so versucht wird, die Kundgebung zu kapern. Sahra Wagenknecht hat mehrmals klar gemacht: Rechtsextreme sind bei der Demo nicht willkommen. Man kann nicht in die Köpfe der Teilnehmer schauen, wie sie politisch denken. Aber man kann mit einem Sicherheitskonzept, Polizei und Ordnern dafür sorgen, dass rechte Flaggen oder Symbole auf der Friedenskundgebung nicht geduldet werden.
Warum, glauben Sie, hat das Friedensmanifest inzwischen so viele Unterstützer?
Tatti: Die Menschen leiden mit der ukrainischen Bevölkerung. Für sie ist die Angst der Ukrainer um ihr Leben und ihre Familien nachvollziehbar. Auch hierzulande wächst die Furcht vor einer Ausdehnung des Krieges. Viele bekommen durch die hohe Inflation dessen Auswirkungen zu spüren. Deshalb wünsche ich mir, dass ein breiter Protest am morgigen Samstag deutlich macht, dass endlich eine Politik der Deeskalation und Diplomatie notwendig ist. (GEA)