STUTTGART. Die junge Frau ist aggressiv. Immer näher kommt sie dem Mann im blauen Kittel, schließlich geht sie auf ihn los. Der streckt ihr den Arm entgegen und brüllt »Stop« – so laut, dass es gefühlt im halben Robert-Bosch-Krankenhaus (RBK) zu hören ist. Die Umstehenden zucken zusammen. Und auch die Angreiferin wirkt irritiert. Ein Moment, der dem Attackierten den Rückzug ermöglicht.
Die Szene, die sich in der Klinik oberhalb des Stuttgarter Pragsattels abspielt, ist nicht echt. Sie gehört zu einem Training. Die Angreiferin heißt Rebekka Brenner und arbeitet hier ebenso als Pflegekraft wie Tomi Bajic, der Mann im blauen Kittel. Angeleitet werden sie von Markus Günther. Der Oberarzt in der Abteilung für Klinische Akut- und Notfallmedizin ist einer von drei Trainern, die das Personal in Sachen Deeskalation schulen.
Es geht um Deeskaltion
Seit 2016 gibt es das Programm. »Wir bieten mehrere Kurse im Jahr an. Inzwischen haben wir etwa 600 der 3.000 Mitarbeitenden geschult«, sagt Günther. Die Kurse sind freiwillig, erfreuen sich aber großer Nachfrage. Der Hintergrund ist freilich ein trauriger: Übergriffe von Patienten oder Angehörigen gegenüber dem Personal sind an der Tagesordnung. »Es gibt Brennpunkte, etwa die Notaufnahme. Aber Leute in Ausnahmesituationen gibt es im ganzen Haus«, weiß Günther, der als junger Assistenzarzt selbst mal niedergeschlagen wurde. Statistisch zu erfassen sei das nur schwer: »Für jeden liegt die Schwelle unterschiedlich hoch. Da gibt es eine riesige Dunkelziffer.«
In den mehrtägigen Trainings werden zwar auch simple Verteidigungstechniken unterrichtet, es geht aber vor allem darum, gar nicht erst brenzlige Situationen entstehen zu lassen. Deshalb gehört es zum Programm, sich den eigenen Arbeitsplatz anzuschauen. Enge, dunkle Wartebereiche etwa schüren Aggressionen. Pflegekräfte und ärztliches Personal lernen auch, sich selbst besser einzuschätzen und herauszufinden, in welchen Situationen sie unter Stress geraten. Dazu kommen Kommunikations- sowie einfache Abwehr- und Fluchttechniken.
»Die Trainings haben sich bewährt«, sagt Mark Dominik Alscher. Der Medizinische Geschäftsführer am RBK berichtet von einer Sicherheitslage, die besonders in der Notaufnahme schwierig ist. »Die Notfallstruktur wird überrannt«, so Alscher. Gründe gebe es mehrere. Migrationswellen brächten Menschen, die sich im hiesigen Gesundheitssystem nicht auskennen und gern mit der ganzen Großfamilie kommen. In manchen Stadtteilen gebe es inzwischen keinen Hausarzt mehr, zudem steige die Erwartungshaltung vieler Patienten. Die Folgen: großer Andrang und wachsende Aggressionen.
»Wir haben in jeder Nacht ein bis zwei Polizeieinsätze in der Notaufnahme«, sagt Alscher. Verbale und körperliche Übergriffe hätten zugenommen. »Da wird mit der Handtasche auf Pflegekräfte eingeschlagen«, erzählt der Geschäftsführer. Inzwischen ist auch ein Wachdienst im Einsatz. »Wir sind ein offenes Haus und wollen das auch bleiben, aber wir stoßen dabei inzwischen an Grenzen.« Man müsse die Mitarbeitenden schließlich auch schützen und könne es sich nicht leisten, sie durch Verletzungen zeitweise oder durch Kündigung ganz zu verlieren.
Die Deeskalationstrainings sind dabei ein Baustein, die Sicherheit zu erhöhen. Und das nicht nur am RBK. Viele Krankenhäuser kennen dieselben Probleme. Auch im Klinikum Stuttgart kommt es »insbesondere in den Notaufnahmen, die derzeit sehr stark in Anspruch genommen werden, verständlicherweise zu Stress und emotionalen Ausnahmesituationen«, sagt Sprecher Stefan Möbius. Deshalb wird auch dort das Personal mit Deeskalationstrainings geschult. Trotz dieser Präventionsmaßnahmen nahm die Zahl der Übergriffe in den vergangenen Jahren zu. »An Wochenenden oder nachts werden am häufigsten die Kolleginnen und Kollegen in den Notaufnahmen Opfer von Beleidigungen, Bedrohungen und tätlichen Übergriffen. Aber auch in anderen Bereichen kommt es zu Aggressionen«, so Möbius. Auch am Klinikum wird Sicherheitspersonal eingesetzt. Polizeieinsätze seien »an der Tagesordnung«.
Das Training hilft
»Das Gefühl ist bitter, dass man den Leuten hilft und dafür angegriffen wird«, erzählt Tomi Bajic am RBK. Schon oft hat er Aggressionen erlebt oder wurde von Kolleginnen gerufen, wenn es Ärger oder gar sexuelle Übergriffe gab. »Vieles wurde in der Vergangenheit überhaupt nicht dokumentiert«, sagt er. Das ändere sich aber glücklicherweise: »Heute akzeptiert man das nicht mehr so ohne Weiteres.« Das Training helfe beim Umgang mit diesen Situationen – auch präventiv. »Man scannt die Umgebung ganz anders. Überlegt zum Beispiel, ob man Schere oder Kuli in der Tasche hat oder wo die Glasflaschen stehen. Die fliegen auch ganz gern mal«, erzählt Rebekka Brenner – und schlüpft wieder in ihre Arbeitskluft. Das Training ist für heute vorbei. Und in der Notaufnahme die Hölle los. (GEA)