BERLIN. Die Idee ist, das muss man Olaf Scholz lassen, gar nicht so verkehrt. Beim Treffen mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron in Hamburg lässt der Kanzler Fischbrötchen servieren. Heringe und andere Meeresfrüchte sind auf Pariser Marktplätzen gerade groß im Kommen, außerdem lässt sich so ein Brötchen gut in die Hand nehmen. Ein beherzter Biss mit gleichzeitig energischem Blick zeigt: Wir haben die Sache im Griff. Fischbrötchen haben allerdings auch die Eigenschaft, dass sie zum Ende hin matschig werden und zerbröseln. Sie sind damit unfreiwillig ein Symbol für die Kanzlerschaft von Olaf Scholz. Am Ende ist der SPD-Politiker noch lange nicht, aber knapp zwei Jahre nach seiner Vereidigung kommen ihm die Konturen abhanden.
Wofür steht Olaf Scholz? Viele Wählerinnen und Wähler stellen sich offenbar diese Frage, suchen nach dem Profil des Regierungschefs. Im ZDF-Politbarometer steht der Kanzler zwar auf Platz drei. Sein Wert von minus 0,2 allerdings ist mindestens peinlich. Seine Vorgängerin Angela Merkel hatte selbst dann einen um ein Vielfaches besseren Wert, als sie gar nicht mehr Kanzlerin war. Warum Scholz oft nicht wirklich zündet, zeigt sich in diesen Tagen des Angriffs auf Israel.
Scholz wiederholt sich
Beim Hamburg-Termin mit Macron, es ist die deutsch-französische Kabinettsklausur, grinst der Kanzler über sein Fischbrötchen hinweg ziemlich viel in die Kameras hinein. Man fragt sich, was denn wohl gerade so lustig ist, während der eine Krieg in der Ukraine weiter tobt und der andere in Nahost immer noch blutiger wird. Ein Lachen zur falschen Zeit hat schon Politikerkarrieren beendet, Scholz kriegt auch in seinem Pressestatement nicht wirklich die Kurve. »Ich sage es noch einmal: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson, auch und gerade in dieser Lage. Wir stehen fest und unverbrüchlich an der Seite Israels.« Genau, er hat es bereits gesagt, bei seinem Statement am Sonntag. Scholz wiederholt die Worte fast eins zu eins. Sie sind richtig, sie sind wichtig – besonders emphatisch indes sind sie nicht.
Beobachter haben noch die peinliche Szene vom August letzten Jahres vor Augen, als Palästinenserpräsident Mahmud Abbas im Kanzleramt zu Gast war. Abbas reagierte auf eine Journalistenfrage mit einer üblen Holocaust-Relativierung – und Scholz schwieg dazu. Vom »Antisemitismus-Skandal«, vom »Holocaust-Debakel« wird anschließend geschrieben. Scholz kommt nur einigermaßen unbeschadet aus der Sache raus, weil sich sein Sprecher Steffen Hebestreit mit breiten Schultern vor ihn stellt und die Verantwortung übernimmt. Er habe, sagte Hebestreit, die Pressekonferenz zu schnell beendet, Scholz habe deshalb nicht mehr reagieren können.
Niemand soll sagen, dass den Kanzler die Sache nicht interessiert. Bei seinem Antrittsbesuch in Israel im März 2022 kommen ihm fast die Tränen, als er vor der deutschen Verantwortung spricht. Der Termin wird vom Krieg in der Ukraine überschattet, das Programm wird gekürzt, Scholz besteht gleichwohl auf einen Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Die Israelis rechnen ihm das sehr hoch an. Sie wissen jetzt, dass Merkels Erklärung, Israels Sicherheit sei Teil der deutschen Staatsräson, mit Scholz weiter gilt. Scholz macht Eindruck – und reißt das beim Abbas-Besuch in Berlin wenig Monate alles wieder ein.
Der Kanzler wirkt oft so, als ob er mit seinen Gedanken weit voraus ist. Viele aus seinem Umfeld sind beeindruckt von seinem umfangreichen Wissen. Er ist ein großer Fan der Denkfabrik »Club of Rome«, hat angeblich alle ihre Veröffentlichungen gelesen. Scholz selbst hat einen »Klimaclub« gegründet, die Idee ist gut, aber auch sie zündet bei den Staats- und Regierungschefs, die alle mitmachen sollen, nicht so wirklich. Das Vergeistigte hat Stil, es passt zu ihm. Aber die Deutschen verlangen von ihrem Regierungschef oder ihrer Regierungschefin eben auch Handfestes. Helmut Kohl hatte den Saumagen, Gerhard Schröder die Currywurst, Merkel die Kartoffelsuppe. Scholz kaut auf einem Fischbrötchen herum.
Der große Plan
Er hat einen großen Plan, am Ende werden das alle erkennen – das ist es, was Olaf Scholz den Menschen im Land vermitteln will. Als Beleg dafür, dass der Kanzler auch in scheinbar größter Bedrängnis alles unter Kontrolle hat, führt sein Umfeld gern den unwahrscheinlichen Weg des 65-Jährigen ins Kanzleramt an. Noch im beginnenden Wahlkampf-Endspurt hatte es für den SPD-Spitzenkandidaten in den Umfragen so schlecht ausgesehen, dass ernsthaft diskutiert wurde, ob er zu den Fernseh-Diskussionen mit den beiden Kandidaten von Union und Grünen überhaupt eingeladen werden soll. Selbst im eigenen Lager schien Scholz lange nicht wie ein Gewinner, hatte kurz davor im Rennen um den Parteivorsitz noch das Nachsehen.
Dass er dann tatsächlich ins Kanzleramt einzieht, liegt dann nicht nur an Scholz’ eigener Stärke, sondern mindestens ebenso sehr an der eklatanten Schwäche seiner Konkurrenz. Die Union hatte sich nach den Merkel-Jahren noch nicht neu sortiert, brauchte einen langen, quälenden Prozess, um sich auf Armin Laschet als Kanzlerkandidaten zu einigen. Der patzte dann gewaltig, als er sich bei einem Ortstermin im Gebiet der Flutkatastrophe mit 180 Todesopfern nicht beherrschen konnte. Ob es wirklich nur sein peinliches Lachen war, das ihn die Kanzlerschaft kostete, ist unklar. Doch Scholz profitierte.
Nun jedoch scheint sich zu bewahrheiten, wovor Beobachter schon damals warnten: Ein weit in die politische Mitte hinein kompromissfähiger Kanzler von Gnaden einer weit nach links gerückten Partei – das kann nicht gut gehen. Seine links dominierte Partei nimmt dem Kanzler jede Beinfreiheit. Hartz IV überwinden, die Arbeitsmarktreformen des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder zurückdrehen, so lautet der größte Auftrag. Mit dem Bürgergeld, das höher ausfällt und weniger Sanktionsmöglichkeiten vorsieht, liefert Scholz pflichtschuldig. Doch die Reform überzeugt in Zeiten des grassierenden Arbeitskräftemangels vielleicht die linken Genossen, aber nicht die breiten Massen. Vielmehr hat sie eine giftige Diskussion ausgelöst, ob es sich für Geringverdiener überhaupt noch lohnt, täglich arbeiten zu gehen.
Starke »Zeitenwende«-Rede
Und als Scholz nach Beginn des Ukraine-Kriegs in seinem stärksten Auftritt als Kanzler die »Zeitenwende« in der Verteidigungspolitik verkündet, wird er von den Pazifisten in den eigenen Reihen bald eingebremst. In der Koalition mit Grünen und FDP wirkt er erst recht wie gelähmt. Die Ampel setzt ihren Koalitionsvertrag um, schafft etwa für Transpersonen die Möglichkeit, einmal jährlich das amtliche Geschlecht zu ändern und legalisiert Marihuana. Doch ein Großteil der Bevölkerung fragt sich, wie er mit explodierenden Mieten, Energie- und Lebensmittelpreisen klarkommen kann. Dass gerade in solch schwierigen Zeiten ein grünes Heizungstauschgesetz durchgeboxt werden soll, von dem viele Menschen fürchten, es überfordere sie finanziell, bleibt auch an Scholz hängen.
Der – von Haus aus kein begnadeter Kommunikator – kann den Menschen im Land nicht mehr vermitteln, dass er einen großen Plan hat, dass am Ende alles gut werden wird. Die gerade in Krisenzeiten nötige Orientierung, er bleibt sie in den Augen von immer mehr Wählern schuldig. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel geht nicht etwa er als Erster vor die Mikrofone, sondern Außenministerin Annalena Baerbock. Die Grünen-Politikerin hätte dem »Scholzomaten« mit ihrer deutlich charismatischeren Art bereits im Wahlkampf fast das Wasser abgegraben, sie übernimmt in der Ampel oft die Initiative, ebenso wie ihr grüner Parteifreund, Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck.

Scholz wirkt dabei oft so, als schweige er aus der Furcht heraus, ein vermeintliches Machtwort am Ende gar nicht durchsetzen zu können. Wenn er der Opposition einen »Deutschlandpakt« anbietet, um den »Mehltau aus Bürokratismus, Risikoscheu und Verzagtheit« zu bekämpfen, der auf dem Land liege, spricht das Bände: Auf die eigenen Truppen allein vertraut der Kanzler offenbar nicht mehr. Doch die Union will zuerst über die Migrationspolitik reden. Am Freitag kam es zum Spitzengespräch zwischen Scholz, Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU), Stephan Weil (SPD) und Boris Rhein. Niedersachsens populärer Landesvater und der eben erst bestätigte CDU-Ministerpräsident von Hessen vertraten die Länder.
Unter dem Eindruck der bitteren Wahlschlappe wollen plötzlich auch die drei Ampel-Partner rasch Ergebnisse in Sachen Zuwanderung liefern. Am Mittwoch einigten sie sich auf einen Doppelschritt: Geflüchtete, die bereits in Deutschland sind, sollen leichter in Arbeit kommen, gleichzeitig werden Verfahren zur Abschiebung vereinfacht. Der Druck ist hoch: Gerade die SPD, aber auch FDP und selbst die Grünen hatten Wähler an die AfD verloren. Besonders Innenministerin Nancy Faeser muss nun liefern. Dass sie als große Verliererin der Hessen-Wahl politisch angeschlagen ist, macht die Dinge auch für Scholz nicht leichter. Denn die Verantwortung für Faesers gescheiterten Spagat zwischen Hessen und Hauptstadt trägt letztlich er.
Augenklappe macht nahbar
Ausgerechnet ein Missgeschick beschert dem Kanzler in seiner Misere positive Schlagzeilen: Mit der Augenklappe, die er nach einem Jogging-Unfall für einige Tage trägt, wirkt er so ganz anders als sonst. Nahbar, fehlbar, verletzlich, einerseits. Andererseits aber auch wie ein verwegener Pirat, entschlossen und durchsetzungsstark.
Doch die Klappe hat er wieder abgelegt, die Wahlschlappen und die ganze Schwäche der Ampel fallen auf den Kanzler zurück. Nicht nur in der Zuwanderungspolitik, die viele Menschen angesichts wachsender Flüchtlingszahlen gerade besonders beschäftigt, regiert die Ampel bislang offenkundig meilenweit an den Wählern vorbei. Laut Manfred Güllner, dem Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, »war und ist eine Mehrheit der Bundesbürger gegen die Abschaltung der Kernkraftwerke, gegen eine Erhöhung des Bürgergeldes, gegen ein Verbot von Gasheizungen und des Verbrenner-Motors und – auch wenn manche das als Petitesse abtun – gegen das Gendern.« Im Wahlergebnis von Bayern und Hessen sieht er »die Rache der ungehörten Mehrheit« – und sie trifft vor allem Olaf Scholz. Oder anders ausgedrückt: Das zu Beginn vielversprechend pralle Fischbrötchen ist bis auf einen krümeligen Rest fast aufgezehrt. (GEA)