BERLIN/PASSAU. Russische Staatsmedien haben den Krieg gegen die Ukraine medial schon seit Jahren vorbereitet, ebenso die Narrative des Genozids und der Entnazifizierung. Professor Dr. Florian Töpfl (45) sagt im Interview, warum er den russischen Präsidenten Putin für gefährlich hält und warum auch Journalisten russischer Staatsmedien mit Sanktionen belegt werden sollten. Töpfl forscht seit Jahren zu staatlichen russischer Desinformationskampagnen.
GEA: Herr Töpfl, welche Rolle spielen russische Medien im Informationskrieg während der Invasion in die Ukraine?
Florian Töpfl: Mittlerweile sind alle reichweitenstarken russischen Medien staatlich gelenkt. Den Anteil der Bevölkerung, der sich über regierungskritische Medien informiert, hätte ich vor dem Kriegsausbruch auf deutlich unter zehn Prozent geschätzt. In Umfragen nennen 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung die großen nationalen Fernsehkanäle als Hauptinformationsquellen. Letztere werden vom Kreml gesteuert. Ich beobachte die russischen Staatsmedien seit mehr als zehn Jahren. Gerade seit der Annexion der Krim hat sich die Berichterstattung zunehmend militarisiert.
Wie hat sich die Berichterstattung militarisiert?
Töpfl: In den Hauptnachrichtensendungen tauchten immer häufiger Bilder von Waffen und Gefechten auf. Berichtet wird über neue Raketentechnik, Übungen der Armee und Militärmessen. Medial wird so eine Welt gezeichnet, in der Waffen und Militär Teil des Alltags sind, in der internationale Konflikte regelmäßig mit Gewalt gelöst werden und in der Russland von einer Schar böswilliger Feinde umgeben ist. Dies zu beobachten, hat mich schon lange vor der jüngsten Eskalation mit großer Sorge und Traurigkeit erfüllt.

Von welcher Erzählung wird die Invasion der Ukraine begleitet?
Töpfl: Die Aggression gegen die Ukraine wurde mit der Gefahr der Ausdehnung der Nato nach Osten begründet, die als massives Sicherheitsrisiko dargestellt wurde. Ein zweites, aus westlicher Sicht kaum nachvollziehbares Argument war ein vermeintlicher »Genozid« in Donezk und Luhansk. Die UN-Definition von Völkermord gibt diese Interpretation nicht her.
Vielen Menschen denken auch wegen des Genozid-Vorwurfs: Jetzt ist Putin völlig durchgedreht…
Töpfl: Dass vielen Russinnen und Russen Narrative wie jene rund um den Genozid plausibel erscheinen, lässt sich nur dadurch erklären, dass sie seit Jahren in einer medialen Welt leben, in der die Geschichte ihres Landes und das tagesaktuelle Geschehen aus einer völlig anderen Perspektive erzählt werden. Man kann sich das vielleicht vorstellen wie ein riesiges Gemälde mit unzähligen Details, das in den Köpfen der Menschen über viele Jahre gezeichnet wurde. Die Begründung der jüngsten Aggressionen ist dabei nur eine weitere Szene, die sich mit einigen wenigen Pinselstrichen perfekt in die Komposition einfügt. Anders ausgedrückt: Plausibel und stimmig erscheinen viele Argumente Putins nur Menschen, die seit Jahren in dieser medial vermittelten Welt leben. Umgekehrt ist es genauso: Viele der Argumente, die wir Europäer für Sanktionen und Waffenlieferungen ins Feld führen, ergeben für Russinnen und Russen, die seit Jahren regelmäßig Staatsfernsehen schauen, keinen Sinn.
»Einige Teile des Puzzles passen dieses Mal einfach nicht zusammen«
Eines der für den Westen kaum nachvollziehbaren Argument ist die vermeintlich notwendige »Entnazifizierung« der Ukraine …
Töpfl: Das ist wirklich kaum nachvollziehbar. Allerdings gibt es in der ukrainischen Geschichte tatsächlich einige durchaus zweifelhafte Figuren, die man als »Nazis« bezeichnen kann und die von einigen Gruppen in der heutigen Ukraine verehrt werden. Diese Problematik wurde in der Erzählung der russischen Staatsmedien seit Monaten stark in den Vordergrund gerückt. Putin geht nun einen Schritt weiter und fordert eine umfassende »Entnazifizierung« der Ukraine. Das macht vielen Menschen vor Ort große Angst. Sie befürchten, dass die neuen Machthaber nach dem geplanten Sturz der ukrainischen Regierung unter dem Banner der »Entnazifizierung« nicht nur gegen Rechtsextreme, sondern gegen alle dem Westen und der Demokratie zugeneigten Personen vorgehen werden. Also gegen Aktivisten, politische Eliten, Wissenschaftler, Schriftsteller, Journalisten. Mit welchen Mitteln ist unklar. Die derzeitige ukrainische Führung als Nazis zu bezeichnen, scheint jedoch selbst in den aktuellen Narrativen des Kremls kaum plausibel.
Selenskyj ist Jude – und soll Nazi sein.
Töpfl: Selbst der russische Botschafter in Brüssel hatte vor einigen Tagen in einem Interview Schwierigkeiten zu erklären, aus welchen Gründen Selenskyj eigentlich gestürzt werden soll. Auf die Fragen, ob Selenskyj an einem Genozid eine Mitschuld trage oder ob er von der Entnazifizierungskampagne betroffen sein könnte, wich er aus. Er wollte diese Urteile den »neuen Behörden in Kiew« nach dem Machtwechsel überlassen. Alles in allem erscheinen mir die Narrative, mit denen die russischen Aggressionen seitens der Staatsmedien derzeit gerechtfertigt werden, auffallend unausgegoren und inkohärent. Einige Teile des Puzzles passen – anders als in der Vergangenheit – dieses Mal einfach nicht zusammen. Strategische Narrative müssen in rascher Abfolge geändert werden – auch weil sich die militärische Lage nicht so entwickelt, wie man offensichtlich erwartet hatte. Es wird deshalb meines Erachtens eine große Herausforderung für die russischen Eliten, die sich für die nächsten Wochen abzeichnenden Ereignisse vor der russischen Öffentlichkeit zu rechtfertigen.Ist zu erwarten, dass russische Medien noch stärker gleichgeschaltet werden?
Töpfl: Ja. Regierungskritische Journalisten und Medien müssen noch härtere Repressionen befürchten. Die russische Führung hat am Wochenende angekündigt, Twitter zu verlangsamen und Facebook teilweise zu sperren. Kritische Medien wurden unter Androhung von Schließung aufgefordert, die Geschehnisse in der Ukraine nicht mehr als »Krieg«, »Invasion« oder »Angriff« zu bezeichnen. Stattdessen sollen sie künftig den offiziellen Terminus »Spezialoperation« benutzen.
ZUR PERSON
Prof. Dr. Florian Töpfl (45) ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Kommunikation mit Schwerpunkt auf Osteuropa und die postsowjetische Region an der Uni Passau. Er leitet ein vom Europäischen Forschungsrat gefördertes Projekt zu den »Auswirkungen der Digitalisierung auf Russlands informationellen Einfluss im Ausland«. Mehrfach bereiste er die Ukraine und Russland. (GEA)
Sind diese Repressionen neu?
Töpfl: Nein, neu sind diese Repressionen nicht. Die Medienfreiheit in Russland wurde bereits im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts immer weiter eingeschränkt. Im vergangenen Jahr wurden beispielsweise viele kritische Journalisten und Medien offiziell als »ausländische Agenten« deklariert. Eine wichtige Folge war, dass diese Medien weitgehend von Werbeeinnahmen abgeschnitten wurden. Bereits vor einigen Wochen hat der Kreml nahezu alle kritischen Medien aufgefordert, alle Enthüllung der investigativen Journalisten rund um Alexei Nawalny aus den Archiven zu löschen. Diese Reportagen enthalten Informationen über den Besitz und die Korruption der Regierung und ihrer Günstlinge. So musste etwa auch das Video entfernt werden, das von »Putins geheimen Palast« an der Schwarzmeerküste berichtete. (GEA)