REUTLINGEN. Der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ferdinand Kirchhof, spricht im GEA-Interview über den Zustand der Demokratie sowie über den richtigen Umgang mit der erstarkenden AfD.
GEA: Herr Kirchhof, die AfD liegt in Umfragen in Thüringen bei über 32 Prozent und bundesweit bei 20 Prozent. Ist das eine Gefahr für die Demokratie?
Ferdinand Kirchhof: Wenn eine Partei viele Stimmen gewinnt, ist das erst einmal ein normaler Vorgang und keine Gefahr für die Demokratie. Allerdings muss man sich anschauen, welche Menschen die AfD wählen und warum sie das tun. Man kann begründet vermuten, dass die Mehrheit der AfD-Wähler und -Befürworter weniger die Partei und deren Programm wollen. Für sie steht im Vordergrund, dass bestimmte Themen politisch gelöst werden sollten, für die sich diese Partei starkmacht, während die etablierten Parteien sie vernachlässigen. Die Frage ist nur, was macht die AfD mit ihrem aktuellen Rückenwind, wenn sie diese Themen nur anschneidet, aber gar keine Lösungen dafür bietet. Verwendet sie ihn für andere Zwecke und Ziele?
Ist es nicht ein Alarmsignal für die etablierten Parteien, dass es ihnen nicht gelingt, diese Themen anzusprechen, die so vielen Menschen wichtig sind?
Kirchhof: Ja, das ist begründet. Die etablierten Parteien, die schon lange im Bundestag vertreten sind, beschäftigen sich zurzeit mit ganz vielen Themen, jedoch nicht mit den Fragen, die sich den meisten Bürgern derzeit stellen. Ein Beispiel bietet das Heizungsgesetz, also das Gebäude-Energie-Gesetz. Klimaschutz ist richtig. Da muss dringend etwas geschehen. Aber mit dem Heizungsgesetz die Häuslebauer finanziell aus dem Sattel zu heben mit einer zeitlichen und finanziellen Wucht, die sie nicht verkraften können, ist verfehlt. Eine vernünftige, sachliche Diskussion über häusliche Emissionen unter Einschluss aller ökonomischen und sozialen Aspekte findet in den Parteien nicht statt. Das ist ihr Problem und die Chance für die AfD, die sie auch sofort wahrnimmt.
ZUR PERSON
Ferdinand Kirchhof (73) stammt aus Osnabrück. Er studierte in Freiburg und Heidelberg Jura. Von 2003 bis 2004 war er unter anderem Sachverständiger der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Föderalismusreform. Seit 2007 Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, war er von 2010 bis 2018 Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. Kirchhof lebt mit seiner Frau in Reutlingen. (GEA)
Ist es nicht eine Gefahr für die Demokratie, dass die etablierten Parteien dieses Feld der AfD überlassen?
Kirchhof: Die Parteien erfüllen eine bestimmte Aufgabe in einer Demokratie. Sie sollen der Transmissionsriemen des Willens des Volkes in die Parlamente sein. Wenn der Wille des Volkes jedoch nur partiell aufgenommen wird, und die Parteien stattdessen ihre eigenen Themen in den Vordergrund stellen, die weder für die Bevölkerung dringlich sind noch sich sachlich aufdrängen, dann stimmt etwas nicht.
Woran liegt das? Das ist ja die originäre Aufgabe der Parteien.
Kirchhof: Jeder Mandatsträger möchte sein Mandat behalten, jeder Vorsitzende möchte seine Partei an der Spitze und an der Regierung wissen. Das ist legitim. Aber das ist nicht das eigentliche Ziel im demokratischen Staat. Die Demokratie will ein Optimum an sachgerechter Politik für die Bevölkerung. Dass man auf den Willen der Bürger hört, wenn man Fragen so oder anders entscheiden kann. Das ist bei uns leider nicht der Fall. Es kommt noch ein Zweites hinzu. Einige Parteien sind heute sehr ideologiebelastet. Sie haben sich Vorsätze gefasst, die sie um jeden Preis durchsetzen wollen. Das hat etwas Missionarisches. Sie wollen die Bürger belehren und hören deswegen gar nicht mehr auf sie, weil sie meinen, es besser zu wissen. Dieser Politikstil bestimmt heute die Debatte und verstimmt die Wähler.
Nehmen wir an, es gäbe eine AfD-Regierung. Könnte diese die Spiel-regeln der Demokratie verändern?
Kirchhof: Die Spielregeln der Demokratie sind rechtlich in der Verfassung und darunter in Gesetzen festgelegt. Um die Verfassung zu ändern, braucht man eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat. Das ist eine sehr hohe Hürde. Insofern sind derartige Sorgen ein bisschen Angstmache. Gesetze hingegen kann man mit einfacher Mehrheit ändern. Hier läge ein Einfallstor für eine illiberale Demokratie, wie sie zurzeit in Polen und Ungarn besteht. Vor allem: Demokratie und Rechtsstaat leben von den Menschen. Wenn die Bürger nicht mehr von Demokratie und Rechtsstaat überzeugt sind, dann haben beide verloren. Man kann das Funktionieren einer Demokratie auf Dauer nicht nur mit Rechtsregeln aufrecht erhalten. Demokratie muss Tag für Tag aus der Überzeugung seiner Bürger gelebt werden.
Es fällt auf, dass illiberale Demokratien wie etwa Ungarn oder Polen immer bei den Medien und der Justiz ansetzen, um den Staat umzubauen.Wie gefährdet ist unsere Justiz?
Kirchhof: Man kann die Arbeit eines Gerichts erheblich stören oder sogar lahmlegen, wenn die einfachgesetzlichen Prozessregeln verändert werden. In Polen war geplant, dass das Verfassungsgericht Beschwerden in der Reihenfolge ihres Eingangs entscheiden muss. Das heißt, wenn eine Partei eine Beschwerde gegen ein neu erlassenes Gesetz befürchtet, reicht sie einen Tag vorher dreihundert Verfassungsbeschwerden ein. Dann ist das Gericht zuverlässig über Monate, vielleicht sogar für die ganze Legislaturperiode lahmgelegt.
Und wie ist es in Israel?
Kirchhof: In Israel geht es darum, ob das oberste Gericht über die Angemessenheit von politischen Entscheidungen richten darf. Wenn dem Gericht diese Befugnis genommen würde, fiele die Demokratie nicht sofort in sich zusammen. Aber es würde ein entscheidendes Stück an Kontrolle der Politik durch den Verfassungsstaat aufgegeben.
Die AfD ist in Thüringen und Sachsen sehr stark. Wäre es gefährlich, wenn es dort einen Verfassungsrichter mit AfD-Parteibuch gäbe?
Kirchhof: Wenn die Bevölkerung will, dass ein Vertreter einer bestimmten Partei im Verfassungsgericht eines Landes repräsentiert ist, ist dagegen nichts einzuwenden. Er muss sich ohnehin in der Gerichtsberatung der senatsinternen Diskussion stellen und am Schluss entscheidet die Mehrheit im Kollegium. Problematisch wird es, wenn diese Partei verfassungsfeindlich ist. Dann haben sie den Fuchs im Hühnerstall.
Wie sieht es nun konkret mit der AfD aus, die vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft wird?
Kirchhof: Die AfD ist aktuell verfassungsgerichtlich nicht verboten. Solange das nicht der Fall ist, darf der Staat nach Artikel 21 Grundgesetz nicht mit dem Ziel eines Verbots oder einer Beschränkung eingreifen. Zudem muss man sehen: Die Abgeordneten dieser Partei haben ebenso ein demokratisch legitimiertes Mandat wie die anderer Parteien. Das gilt auch für Landräte. Die Bevölkerung hat sie auf diesen Posten gewählt.
Das ist ein guter Einwand. CDU-Chef Friedrich Merz hat die Debatte über eine Brandmauer angestoßen. Doch ist eine Brandmauer nicht undemokratisch? Der Landrat ist ja gewählt.
Kirchhof: Die Idee von einer Brandmauer gibt es schon seit 2015, als man sich entschloss, mit der AfD nicht zu paktieren. Die Entscheidung, mit ihr wegen ihres Programms keine Kooperation einzugehen, halte ich für richtig und vernünftig. Wenn man aber mit Brandmauer meint, dass man die Kollegen im Parlament nicht grüßt, nicht mit ihnen redet und sich nicht mit deren Themen auseinandersetzt, geht es daneben. Schon der Begriff der Brandmauer ist unglücklich gewählt. Eine Mauer schließt ab. Da findet nichts mehr statt, nicht mal eine Diskussion politischer Meinungen, obwohl der demokratische Diskurs darauf angewiesen ist. Der Entschluss, wir koalieren nicht mit der AfD, wir machen keine gemeinsamen Programme, wir kooperieren nicht mit ihr, ist angebracht, denn die politischen Auffassungen sind zu gegensätzlich. Zudem besteht bei dieser Partei der Verdacht, dass zumindest einzelne Gruppierungen verfassungsfeindlich handeln. Das schließt aber doch nicht aus, bei Sachfragen von Fall zu Fall wie die AfD zu stimmen. Auch eine Sachfrage mit der Begründung nicht aufzunehmen, sie sei ein Thema oder Antrag der AfD, halte ich für verfehlt. Denn dann könnte die AfD den anderen Parteien die Themen diktieren. Gegen ein Abstimmungsergebnis, das auch mit den Stimmen der AfD zustande gekommen ist, ist demokratisch nichts einzuwenden. Wo einzelne politische Sachbeschlüsse anstehen, ist es unerheblich, von welcher Seite die Stimmen kommen. Ist eine Brandmauer nicht auch bequem für die etablierten Parteien?
Kirchhof: Man kann sich hinter einer Brandmauer auch verstecken. Wenn die etablierten Parteien bei bestimmten Fragen gar nicht nach Lösungen und Argumenten suchen, weil sie von der AfD aufgeworfen wurden, vernachlässigen sie diese Themen völlig. Das erlaubt der anderen Seite, einfach nur zu polemisieren, ohne ihrerseits Argumente zu liefern, wie sie das Problem lösen würde. Mich würde zum Beispiel sehr interessieren, wie die AfD die Reform der Sozialversicherung und der Altersversorgung konkret angehen will.
Sie würden also eher zu einem pragamatischen Kurs im Umgang mit der AfD raten?
Kirchhof: Wenn pragmatisch heißt, von Fall zu Fall nach vorhandenen Mehrheiten entscheiden, ja! Und einen aus den Reihen der AfD gewählten Landrat muss man wegen seiner demokratischen Legitimation akzeptieren. Man kann doch nicht sagen, mir ist der Wählerwille egal, nur weil mir die Partei nicht passt. Die Grenze läge für mich bei gemeinsamen Programmen oder Koalitionsvereinbarungen.
Ist die Debatte um Merz nicht unehrlich? Der Umgang mit der AfD stellt alle Parteien vor Probleme.
Kirchhof: Die Debatte geht an den eigentlichen Problemen vorbei. Man nimmt die Fragen nicht auf, die die Bevölkerung wirklich interessieren. Sie beschäftigt zum Beispiel Migration, Wohnungsmisere, das Risiko eines Wirtschaftsabschwungs und die Zukunft der Altersversorgung. Diese zentralen Probleme sollten die Parteien umfassend aufgreifen und lösen.
Nun zurück zum Anfang unseres Gesprächs. Würden Sie sagen, dass die Demokratie in Deutschland gefährdet ist?
Kirchhof: Derzeit nein. Es gibt jedoch zu denken, dass eine Partei mit einem der-artigen Programm einen so großen Zuspruch in der Bevölkerung findet. Es ist aber auch ein Risiko für die Demokratie, dass die anderen Parteien sich weit vom Volk entfernt haben. Aber das lässt sich leicht beseitigen. Ich würde den Parteien empfehlen, weniger auf Umfragewerte zu achten oder eine andere Partei zum Hauptgegner zu erklären, sondern in eine Diskussion über Sachfragen einzusteigen, sie mit inhaltlichen Argumenten zu führen und dann auch wirklich und verbindlich zu entscheiden. Das würde zu einer etwas sachlicheren und vor allem besseren Politik für Deutschland führen und die Demokratie stabilisieren. (GEA)