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Aktuell INTERVIEW

Deutschland braucht Europa

Sigmar Gabriel glaubt, dass die EU in Zukunft dringend mehr mit einer Stimme sprechen muss

Sigmar Gabriel im Gespräch über Europa und wie mehr soziale Gerechtigkeit gelingen kann. FOTO: TRINKHAUS
Sigmar Gabriel im Gespräch über Europa und wie mehr soziale Gerechtigkeit gelingen kann. FOTO: TRINKHAUS
Sigmar Gabriel im Gespräch über Europa und wie mehr soziale Gerechtigkeit gelingen kann. FOTO: TRINKHAUS

LEINFELDEN-ECHTERDINGEN. Dass Sigmar Gabriel nicht mehr an der Spitze der SPD steht, hindert ihn nicht daran, weiterhin in der Öffentlichkeit präsent zu sein. Gerade wies er Kevin Kühnert, nach dessen steilen Thesen zur Enteignung von BMW, in die Schranken. Außerdem macht er kräftig Wahlkampf für die SPD. Denn Gabriel glaubt, nicht Enteignungen seien die Lösung der aktuellen Probleme, sondern Europa.

GEA: Herr Gabriel, die Ungleichheit in der Gesellschaft wächst. Was kann dagegen helfen?

Sigmar Gabriel: Wenn man sich fragt: ›Woher kommen die großen Errungenschaften unserer Gesellschaft?‹ Dann wird man sehen, dass vieles davon in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts entstanden ist. Das war die Zeit, in der die Idee der Sozialen Marktwirtschaft entwickelt wurde. Das war eine Zeit, in der man mit nationalen Instrumenten der Wirtschaftspolitik, der Bildungspolitik mehr soziale Gerechtigkeit erreichen konnte. Das Problem ist, dass wir das durch Globalisierung und Europäisierung mit nationalen Instrumenten allein nicht mehr schaffen können. Bei dem ersten Treffen der internationalen Sozialdemokratie 1889 in Paris haben die Altvorderen der Sozialdemokratie gesagt: ›Das Kapital ist national organisiert. Das Einzige, was dagegen hilft, ist die internationale Solidarität der Arbeiter.‹ Jetzt stellt man fest: Das Einzige, was international organisiert ist, ist das Kapital. Was wir brauchen, sind wieder soziale und ökologische Spielregeln, die auch europaweit, nach Möglichkeit sogar weltweit greifen. Die Zähmung des Kapitalismus nur mit nationalen Mitteln reicht nicht mehr.

Was stellen Sie sich da vor?

Gabriel: Um den früheren europäischen Kommissionspräsidenten Jacques Delors zu zitieren: ›Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.‹ Wenn Europa nicht mehr ist, als gemeinsame Marktregeln, aber keinen sozialen und ökologischen Schutz bietet, dann muss man sich nicht wundern, dass die Menschen von Europa nicht begeistert sind.

Wie kann das gelingen?

Gabriel: Zuerst einmal sollte das abgeschafft werden, was wirklich eine riesige Ungerechtigkeit ist: Jeder Bäckermeister in Reutlingen zahlt höhere Steuersätze als mancher große Konzern. Die finden in Europa Steueroasen. Europa gehen dadurch 1,5 Billionen Euro jedes Jahr verloren. Stellen Sie sich mal vor, wir hätten nur ein Bruchteil davon. Was könnten wir nicht alles in Bildung investieren, in Forschung oder in soziale Sicherheit. Das zweite ist: Es geht nicht um Leute wie mich. Ich werde in diesem Jahr 60. Werden aber meine Töchter in der Welt von morgen noch eine Stimme haben? Wir haben nur dann eine Stimme, wenn es eine große europäische ist. Wir werden nur Einfluss in der Welt haben, wenn wir zusammenhalten.

»Das Programm gegen Europa wäre ein Programm zur Förderung der Massenarbeitslosigkeit«

Heißt das auch, Zusammenhalten mit Orbán oder Salvini?

Gabriel: Ja. Wir müssen mit denen reden, Geduld haben, zeigen, dass das Europa, das wir zu bieten haben, besser ist, als das der Nationalisten. Nationalisten wie Salvini blasen sich ja gerne auf. Das müssen die machen, weil sie ahnen, dass sie selber viel zu klein sind, um in der Welt von morgen zu bestehen. Kein nationalistischer Gernegroß kann in einer so vernetzten und verbundenen Welt noch etwas bewegen. Eigentlich wissen sie, dass in der Welt von morgen keiner mehr alleine zurechtkommt. Ich finde, man darf die Nationalisten jetzt auch nicht dämonisieren. Man muss sich aber selber zutrauen, besser zu sein, als die. Wenn Deutschland auf Macron früher geantwortet hätte, hätte es Salvini in Italien nicht so leicht gehabt, Europa zu verhetzen.

Wie hätte denn das aussehen müssen?

Gabriel: Wenn Macron sagt, wir brauchen einen gemeinsamen europäischen Sicherheitsrat, weil wir eine gemeinsame europäische Außenpolitik entwickeln müssen, warum sagen wir nicht einfach ja? Frau Merkel sagt dazu einfach gar nichts, was für die Franzosen auch eine Antwort ist. Ich halte das für einen großen Fehler. Wenn Macron sagt, wir brauchen einen gemeinsamen europäischen Grenzschutz, gehört zur Wahrheit, dass es ein Land wie Deutschland war, das in der Vergangenheit einen gemeinsamen europäischen Grenzschutz abgelehnt hat. Wir haben Jahrzehnte so getan, als ob die Flüchtlingsproblematik ein italienisches Problem ist. Erst als wir gemerkt haben, die kommen bis zu uns, haben wir gesagt: ›Wollen wir das nicht gemeinsam machen?‹ Dass die Italiener da sauer sind, kann ich sogar verstehen. Europa ist einmal gegründet worden, um die Konflikte zwischen dem Zentrum – das waren wir Deutsche – und den Rändern in friedliche Bahnen zu lenken.

Europa als Friedensprojekt ist ein abstraktes Konzept. Doch hier findet gerade eine fünfköpfige Familie keine Wohnung. Was haben denn die kleinen Leute von Europa?

Gabriel: Ich finde Frieden überhaupt nicht abstrakt, sondern sehr konkret. Aber vielleicht haben wir uns schon so sehr daran gewöhnt, dass wir vergessen haben, dass Europa Jahrhunderte Krieg kennt, aber nur 70 Jahre Frieden. Nur im Frieden hat man wirtschaftlichen Erfolg und Arbeitsplätze. Wir sind ein Exportland. Wir exportieren 60 Prozent nach Europa. Geht’s den anderen schlecht, werden wir hier arbeitslos. Das Programm gegen Europa wäre ein Programm zur Förderung der Massenarbeitslosigkeit.

Das hilft der Familie oder dem Dieselfahrer jetzt gerade aber nicht.

Gabriel: Wieso nicht? Weder der Diesel noch ein Benzin- oder Elektromotor wird sich in Europa gut verkaufen lassen, wenn die EU auseinanderbricht. Bei mir zu Hause in Wolfsburg werden 70 Prozent der gebauten Autos nach Europa exportiert. Geht es den anderen Ländern schlecht, bleiben wir auf unseren Autos sitzen und verlieren ein paar tausend Jobs.

Man hat das Gefühl, für die SPD läuft es nicht so gut im EU-Wahlkampf. Was kann die SPD machen, um die Europa-Partei zu werden, die sie vorgibt zu sein?

Gabriel: Also ich glaube, dass die Sozialdemokraten mit dem Thema, dass Europa eines sein muss, das schützt, schon richtig liegen. Dass es in Deutschland immer schwer war, für die Europawahl zu mobilisieren, und dass es für die mitte-links-Parteien immer schwieriger war als für die Konservativen, ist leider seit vielen Jahren so. Trotzdem glaube ich, dass der Kandidat, den wir für die EU-Präsidentschaft vorschlagen, Frans Timmermans, der beste Europa-Vertreter ist, den es europaweit gibt.

Wenn Sie an Ihre persönliche Zukunft denken, wäre ein Posten bei der SPD, vielleicht in Europa, interessant?

Gabriel: Nein. Ich hätte ja kandidieren können. (GEA)

 

ZUR PERSON

Der gebürtige Goslaer Sigmar Gabriel war bis März 2017 Vorsitzender der SPD sowie bis März 2018 Vizekanzler und Bundesaußenminister. Gerade wurde er als möglicher neuer Vorsitzender der Atlantik-Brücke ins Spiel gebracht. Bei dem deutsch-amerikanischen Netzwerk wäre er dann der Nachfolger von CDU-Politiker Friedrich Merz. (GEA)