TÜBINGEN/KARLSRUHE. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat den Plänen der Bundesregierung einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es erklärte das Gesetz zur Feststellung eines zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2021 (2. Nachtragshaushaltsgesetz) vom 18. Februar 2022 für nichtig. Nun hat die Koalition in Reaktion darauf einen neuen Haushalt für 2024 aufgestellt und für das Haushaltsjahr 2023 erneut eine Notlage festgestellt, um bereits getätigte Ausgaben auf eine rechtssichere Grundlage zu stellen.
- Was regelte das 2. Nachtragshaushaltsgesetz?
Ursprünglich sah der Haushaltsplan der Bundesregierung für 2021 eine Kreditermächtigung in Höhe von 180 Milliarden Euro vor. Im 1. Nachtragshaushaltsgesetz vom 3. Juni 2021 wurde dieser Betrag auf 240 Milliarden Euro aufgestockt. Da diese Aufstockung aber für ihren ursprünglichen Zweck – die Bekämpfung der Corona Pandemie – nicht benötigt wurde, sollte sie mittels des 2. Nachtragshaushaltsgesetzes rückwirkend in den Energie- und Klimafonds, ein Sondervermögen des Bundes, überführt werden.
- Was ist die Schuldenbremse?
Artikel 109 Abs. 3 des Grundgesetzes regelt, dass der Haushalt von Bund und Ländern grundsätzlich ohne die Aufnahme von Krediten auszugleichen sind. Dieses Erfordernis gilt als eingehalten, wenn die Kreditaufnahme 0,35 Prozent des nominalen Bruttoinlandsproduktes nicht überschreitet.
- Wann darf die Schuldenbremse ausgesetzt werden?
Nach Artikel 115 Abs. 2 Satz 6 darf der Bundestag die zulässige Neuverschuldung erhöhen, wenn Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen, die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen. »Der Begriff Naturkatastrophe bezeichnet unmittelbar drohende Gefahrenzustände oder Schädigungen von erheblichem Ausmaß, die durch Naturereignisse ausgelöst werden. Die Corona-Pandemie stellte ein solches Naturereignis dar«, erklärt Christian Seiler, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, Finanz- und Steuerrecht an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Thematisch weiter reiche der Begriff der »außergewöhnlichen Notsituation«. »Er kann auch außergewöhnliche Störungen der Wirtschafts- und Finanzlage umfassen. Diese müssen allerdings auf einem exogenen Schock beruhen und ein extremes Ausmaß erreichen.«
- Worauf hat der Gesetzgeber zu achten?
Der Gesetzgeber muss das Vorliegen einer Naturkatastrophe oder einer Notsituation darlegen und einen Tilgungsplan aufstellen. Darüber hinaus sieht das Bundesverfassungsgericht einen Veranlassungszusammenhang zwischen der Notsituation und der Überschreitung der Kredit-Obergrenze als notwendig an.
»Um den Charakter von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG als notlagenspezifische Ausnahmevorschrift zu wahren, muss die Kreditaufnahme im Einzelnen sachlich gerade auf die konkrete Notsituation und den Willen des Gesetzgebers, diese zu bewältigen, rückführbar sein«, heißt es in der Urteilsbegründung.
- Was prüfen die Verfassungsrichter?
Ob eine Naturkatastrophe oder eine Notsituation vorliegt, die sich der Kontrolle des Staates entzieht, unterliegt der Kontrolle der Karlsruher Richter. Ab wann die Beeinträchtigung der Finanzlage des Staates als erheblich anzusehen ist, kommt dem Gesetzgeber dagegen nach Ansicht der Verfassungsrichter Beurteilungsspielraum zu. Genau wie bei der Höhe der aufzunehmenden Kredite und bei deren Tilgung.
Kreditfinanzierte Maßnahmen müssen jedoch geeignet sein, die Überwindung der Notsituation zu fördern. »Dabei sind die Anforderungen an die Begründung umso strenger, je weiter das auslösende Ereignis in der Vergangenheit liegt, je mehr Zeit zur Entscheidungsfindung gegeben ist und je entfernter die Folgen sind«, erläutert Seiler.
Zusätzlich unterliegt die Einhaltung der haushaltsrechtlichen Prinzipien der Jährlichkeit und Jährigkeit der verfassungsrechtlichen Kontrolle. Das Prinzip der Jährlichkeit beruht darauf, dass der Haushaltsplan für ein Rechnungsjahr grundsätzlich vor dessen Beginn aufzustellen ist. Das Jährigkeitsprinzip besagt, dass Ermächtigungen nur zu den im Haushaltsplan bezeichneten Zwecken eingesetzt werden und nur bis zum Ende des Haushaltsjahres in Anspruch genommen werden dürfen. Dieses Prinzip entfaltet laut Gericht »Schutzwirkung zu-gunsten des parlamentarischen Budgetrechts, indem es verhindert, das der Entscheidungsspielraum künftiger Gesetzgeber durch fortwährende Vorfestlegung aus früheren Haushalten eingeschränkt wird«.
- Was hat das Bundesverfassungsgericht konkret festgestellt?
Die Karlsruher Richter sahen in der Corona-Pandemie eine Notsituation, die sich der Kontrolle des Staates entzieht und die zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Bundeshaushaltes führt. Das Gericht moniert jedoch, dass die Bundesregierung den Veranlassungszusammenhang zwischen der festgestellten Notsituation und den durch die notlagenbedingte Kreditaufnahme finanzierten Maßnahmen nicht ausreichend dargelegt hat.
Dass die Förderung von Zukunfts- und Transformationsinvestitionen, die während der Pandemie unterblieben waren, eine wesentliche Voraussetzung sei, um die Folgen der Krise zu überwinden, überzeugte die Richter nicht. Da die Krise bereits seit geraumer Zeit andauerte, hätte die Regierung besser darlegen müssen, dass ihre bisherigen Maßnahmen geeignet waren, die Notlage zu überwinden. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn nicht alle Kreditmittel benötigt worden waren, urteilt das Gericht.
Die Richter stellten zudem fest, dass die Prinzipien der Jährlichkeit und Jährigkeit nicht durch die Bildung von Sondervermögen umgangen werden können. Das Verbot struktureller Neuverschuldung umfasse auch derartige Nebenhaushalte. Die Bundesregierung hatte ihre Buchungspraxis dahingehend modifiziert, dass schon die Zuführung der Kreditermächtigung in den Energie- und Klimafonds als Nettokreditaufnahme gewertet wird und nicht wie zuvor der Zeitpunkt, wenn der Kredit tatsächlich in Anspruch genommen wird. Dies verstoße gegen das Prinzip der Jährigkeit.
Zuguterletzt verstoße der Zeitpunkt der Beschlussfassung über das 2. Nachtragshaushaltsgesetz gegen die Anforderung der Vorherigkeit. Obwohl ein Nachtragshaushalt naturgemäß während des Haushaltsjahres eingebracht werde, beraube eine Verabschiedung nach dessen Ende, den Haushaltsplan seiner grundlegenden Funktion als Planungsinstrument.
- Was bedeutet das für die Pläne der Regierung?
»Eine aktuelle Notlage von hinreichendem Gewicht ist nicht ersichtlich«, sagt Seiler. In Betracht käme allenfalls das Fortbestehen einer früheren Notsituation. »Da die Voraussetzungen jedoch umso strenger sind, je länger die Notsituation andauert, scheint die Berufung auf den Ukraine-Krieg nicht als ausreichend. Zumal die Energiepreise inzwischen auf ein deutlich niedrigeres Niveau gesunken sind«, glaubt Seiler. »Zudem sehe ich es als nicht gesichert an, den Ukraine-Krieg als ›außergewöhnliche‹ Notsituation anzusehen. Der Begriff meint ja nicht jede herausfordernde Situation, zu deren Bewältigung der Staat finanzielle Mittel einsetzt, sondern nur extreme Gefahrenlagen. Und die gestiegenen Energiepreise sind ja auch Folge der ergriffenen Sanktionen, entzogen sich also zumindest insoweit nicht der Kontrolle des Staates. Und die erhöhten Militärausgaben werden bereits in erheblichem Umfang über das neue Sondervermögen nach Art. 87a GG kreditfinanziert, dürfen hier also nicht nochmals in Rechnung gestellt werden.«
Damit ist zumindest nicht zweifelsfrei geklärt, dass der Haushalt für 2023 einer gerichtlichen Überprüfung standhält. Ob die 2,7 Milliarden Euro, die im Haushalt 2024 jenseits der zulässigen Neuverschuldung für das Ahrtal vorgesehen sind, eine erhebliche Beeinträchtigung der Finanzlage des Bundes anzusehen sind, ist fraglich. Das sieht auch die Regierung so, weshalb dieser Punkt noch einer eingehenden Überprüfung unterzogen werden soll.
- Lässt sich die Schuldenbremse einfach abändern?
Eine Abänderung der Schuldenbremse, um Zukunftsinvestitionen zu erleichtern, wäre laut Seiler möglich. Er gibt jedoch zu bedenken, dass dies genau der Grundgedanke der alten Rechtslage vor der Einführung der Schuldenbremse 2009 gewesen sei. »Es ist schlicht nicht möglich, den Begriff der Zukunftsinvestition hinreichend präzise zu definieren.« Die Folge war, dass durch kreative Begründungen Konsumausgaben in Investitionen umgedeutet wurden. »Diese Regelung jetzt durch eine Öffnungsklausel für Zukunftsinvestitionen zu ›flexibilisieren‹ hieße, sie zwar formal beizubehalten, sie aber praktisch abzuschaffen.« (GEA)