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Aktuell Terrorismus

Das Rätsel um den Bombenangriff auf Flug PA 103

Vor 35 Jahren explodierte eine Bombe an Bord einer Boeing über dem schottischen Lockerbie. Dabei wurden 270 Menschen getötet. Eine Spurensuche.

Polizisten und Ermittler untersuchen am 22. Dezember 1988 Überreste der Nase des abgestürzten Flugzeugs der amerikanischen Flugl
Polizisten und Ermittler untersuchen am 22. Dezember 1988 Überreste der Nase des abgestürzten Flugzeugs der amerikanischen Fluglinie Pan American. Die »Clipper Maid of the Seas« war nach einem Bombenanschlag über Schottland abgestürzt. Dabei kamen alle 259 Insassen der Maschine sowie elf Bewohner von Lockerbie ums Leben. Foto: AP/Keystone/dpa
Polizisten und Ermittler untersuchen am 22. Dezember 1988 Überreste der Nase des abgestürzten Flugzeugs der amerikanischen Fluglinie Pan American. Die »Clipper Maid of the Seas« war nach einem Bombenanschlag über Schottland abgestürzt. Dabei kamen alle 259 Insassen der Maschine sowie elf Bewohner von Lockerbie ums Leben.
Foto: AP/Keystone/dpa

LOCKERBIE. Der Tag, an dem tausendfaches Leid vom Himmel über Lockerbie regnete, jährt sich am 21. Dezember 2023 zum 35. Mal. Mit den 270 Leben, die durch den folgenreichen Terrorangriff ausgelöscht wurden, starben nicht nur die Träume und Lebensentwürfe jedes einzelnen der 243 Passagiere und 16 Crewmitglieder des Pan-Am-Flugs 103 sowie von elf Bewohnern der schottischen Stadt. Das Attentat zerriss emotionale Bande. Vernichtete Hoffnungen. Zerstörte ganze Familien. Belastet Angehörige, Freunde, Augenzeugen bis heute schwer. Zu Opfern wurden an diesem Tag deshalb weit mehr als die 190 US-Amerikaner, 43 Briten, vier Westdeutschen und 33 Bürger von 18 weiteren Nationen.

Bilder vom Cockpit in Tundergarth, sieben Meilen außerhalb von Lockerbie, die am Morgen danach entstanden, gingen schon vor dem 11. September 2001 als Inbegriff westlicher Verwundbarkeit um die Welt. Wie der stolze Jumbo da zerknittert, als sei er aus Papier, auf dem Acker liegt, hat sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt.

Was ist damals geschehen?

An einem trüben Mittwoch drei Tage vor Weihnachten reißt abends um 19:02:50 Uhr eine Bombe ein Loch in den Rumpf eines Jumbos, der auf dem Flug von London nach New York gerade zur Atlantiküberquerung ansetzt. Die »Maid of the Seas« – Jungfrau der Meere – bricht in knapp 9.450 Metern Höhe entzwei. 257 Menschen und mehr als sechs Millionen Trümmerteile stürzen auf den friedlichen Ort, auf Wiesen und Hügel. Wie alle 3000 Einwohner von Lockerbie werden John Gair (53) und Robert Rafferty (50) in jener Wintersonnwendnacht jäh aus Weihnachtsvorbereitungen und Fernsehsesseln gerissen. Ein ohrenbetäubender Knall. Donner, der immer lauter wird. Im Wohngebiet Sherwood an der M 74 zwischen Gretna Green und Glasgow schlägt der Rumpf mit den kerosingefüllten Tragflächen ein. Gair, der 400 Meter Luftlinie entfernt wohnt, sieht einen roten Blitz. Der Teppich in seinem Flur hebt sich leicht, Putz rieselt von der Decke. »Das war die Druckwelle«, erinnert er sich noch Jahrzehnte später. In einem anderen Wohngebiet fräst sich ein Triebwerk in den Asphalt, im Rosebank-Viertel schlägt das brennende Heck ein.

Anfangs wissen Anwohner und Helfer nicht, was passiert ist. Rafferty denkt erst, die Tankstelle sei in die Luft geflogen. Doch bald ist klar: Ein Passagierflugzeug ist über Lockerbie explodiert. Und: Es war ein gezielter Anschlag.

Ablauf und Aufarbeitung der Tragödie sind in zahlreichen Büchern nachzulesen

Über den genauen Hergang und die Herkulesaufgabe, diesen schlimmsten Angriff auf die Bevölkerung der Vereinigten Staaten vor 9/11 und bis dato größten Massenmord auf britischem Gebiet aufzuklären, ist schon viel geschrieben worden. Zum 35. Jahrestag legt nun Patrick Huber erstmals ein Buch auf Deutsch vor: »Pan Am Flug 103«. Dafür hat der Journalist und einstige Pilot aus Wien unter anderem ausgewertet, wer wo im Flugzeug saß, als der Plastiksprengstoff explodierte. So veranschaulicht er, wie ungewöhnlich leer die Boeing auf der nachgefragten Transatlantikstrecke zwischen den beiden Metropolen gerade so kurz vor Weihnachten war. Etliche Politiker sowie Diplomaten hatten kurz vorher umgebucht. So gab es günstige Last-Minute-Tickets, weshalb besonders viele Studenten und hoffnungsvolle junge Leute in der nur zu zwei Dritteln besetzten »Maid of the Seas« saßen. Das gab und gibt Anlass zu Spekulationen.

Dass die Angehörigen - und damit wir alle - heute überhaupt irgendetwas wissen und Ermittlungen aufgenommen werden konnten, ist der Unpünktlichkeit zu verdanken, für die der Flughafen London-Heathrow in den 1980er Jahren bekannt war. Auch Flug PA 103 startete dort mit rund 30 Minuten Verspätung. Deshalb brachte der Zeitzünder der Bombe die Boeing statt über dem offenen Meer noch über dem schottischen Festland zum Absturz. Der Edinburgher Kommissar John Crawford schildert, wie tausende Helfer, Soldaten und Polizisten hunderttausende Wrackteile in einem Umkreis von fast 20 Kilometern sicherten. Schon tags darauf wurde der Flugschreiber gefunden. Unter den jungen Polizisten, die damals Dienst taten, war der heute 65-jährige Rolf Buwert. Wie Crawford (damals 43), der sich das »unvorstellbare Ausmaß an Tod und Verwüstung« und die daraus resultierende Traumatisierung 2002 im Buch »The Lockerbie Incident« von der Seele schrieb, war der Sohn deutscher Eltern dank seiner Sprachkenntnisse auch an den Ermittlungen in Schottland, den USA und Deutschland beteiligt.

Patrick Huber: Pan Am Flug 103 - Die Tragödie von Lockerbie. Weihnachtsreise in den Tod. Epubli, 252 Seiten, 26.99 Euro
Patrick Huber: Pan Am Flug 103 - Die Tragödie von Lockerbie. Weihnachtsreise in den Tod. Epubli, 252 Seiten, 26.99 Euro Foto: Foto: PR
Patrick Huber: Pan Am Flug 103 - Die Tragödie von Lockerbie. Weihnachtsreise in den Tod. Epubli, 252 Seiten, 26.99 Euro
Foto: Foto: PR

1991 wurden zwei Mitarbeiter des libyschen Geheimdiensts verhaftet. Einer kam wegen vielfachen Mordes 2001 in Haft. Lebenslänglich. Doch acht Jahre später war Abdelbaset Ali al-Megrahi wieder frei. Vorzeitig entlassen aufgrund einer schweren Krebserkrankung. Noch auf dem Sterbebett 2012 soll er seine Unschuld beteuert haben.

Auch nach der Verurteilung eines Libyers gilt der Fall als ungelöst

Zahlreiche Opferfamilien halten ihn für ein Bauernopfer. Ihr Leid bleibt - über Kontinente und Generationen hinweg. Außer Johannes Schäuble (41) aus Rottenburg-Wurmlingen war unter den deutschen Todesopfern an Bord von PA 103 auch Maria Lürbke (25) aus dem Sauerland. Die junge Lehrerin hatte in Frankfurt »mit dem Herzen voll Vorfreude und einem Koffer voller Weihnachtsgeschenke« überraschend doch noch die Reise nach Buenos Aires zu ihrer Schwester Anna angetreten. Ihre älteste Schwester Ursula Funke, damals 27, musste sie am nächsten Tag in Lockerbie identifizieren. Dort hat sie Rolf Buwert kennengelernt, der auch noch als Rentner zu Schäubles und Lürbkes Angehörigen Kontakt hält. »Für meine Eltern war es, als hätte man ihnen das Herz aus dem Leib gerissen. Bis zu ihrem Tod«, schildert Ursula Funke. Ihr tue es heute gut, über die Tragödie zu sprechen. Andere Hinterbliebene möchten in Ruhe gelassen werden. Jeder trauert anders. Für die in Berlin geborene und in Hamburg aufgewachsene US-Künstlerin Suse Lowenstein war Weihnachten nie mehr wie früher, nachdem 1988 die Geschenke ihres Sohns Alexander noch wochenlang ungeöffnet unterm Baum liegen blieben. Der 21-Jährige hatte wie 34 andere Austauschstudenten der Syracuse University einen Sitz im Unglücksflieger ergattert. Der englische Pfarrer John Mosey und seine aus Calw stammende Frau Lisa haben am 21. Dezember 1988 ihre 19-jährige Tochter Helga verloren. »Der Schmerz verändert sich über die Jahre«, sagte die damals 80-Jährige am 30. Jahrestag. »Aber er hört nie auf.« In beiden Familien litten auch die jüngeren Brüder immens an den Folgen des Terroranschlags.

Für Moseys war dies eine »vermeidbare Katastrophe«. Denn es gab Hinweise. Anonym zwar, aber explizit. Ein Tag nach dem angekündigten Zeitfenster für einen Anschlag auf einen Pan-Am-Flug zwischen Frankfurt, London und New York ging das Semtex in einem Kassettenrekorder im Gepäckabteil von PA 103 hoch. Dass nur Politiker, Diplomaten und VIPs gewarnt wurden, empört Ursula Funke ebenso wie das Ehepaar Mosey und viele andere, für die der Fall auch nachdem Abu Agila Masud Ende 2022 als weiterer Hintermann an die USA ausgeliefert worden ist, unzählige Fragen offenlässt. »Unsere Kinder hat man da reinlaufen lassen wie Schafe«, sagt Suse Lowenstein. Deshalb: »Es gibt nichts Neues bezüglich Pan Am 103.« Der bereits für den Anschlag 1986 auf die Berliner Disco La Belle verurteilte Bombenbauer sei nun eben erneut hinter Gittern. Diesmal in den USA. Der Prozess steht aber noch aus. »Offen gestanden, ich verfolge das nicht mehr, weil es schlicht zu deprimierend ist«, sagt die 80-jährige.

»Es ist am Besten, nach vorn zu schauen, statt sich in der Vergangenheit zu verlieren - Rolf Buwert (65), schottischer Polizist im Ruhestand«

Dass solch ein Anschlag nicht von einem Einzelnen geplant und ausgeführt werden kann, darüber herrscht Konsens. Aber wer steckte dahinter? Regierungen im Iran, Libyens Gaddafi, palästinensische oder syrische Terrorgruppierungen? Das Warten auf »closure«, Abschließenkönnen, quält die Angehörigen. Viele meinen, die ganze Wahrheit werde nie ans Licht kommen. Für Crawford war der Fall 2001 abgeschlossen. Auch Buwert will nach vorn schauen statt sich in der Vergangenheit zu verlieren.

»Vergessen kann man das nicht«, erklärt Ursula Funke. Die Traurigkeit wurde zum Lebensbegleiter. »Als hätte man ein Körperteil verloren: Man lernt, damit zu leben«. Die Wärme der Schotten half dabei. Wie viele Einwohner von Lockerbie einst mühe- und liebevoll Kleidung sowie Hinterlassenschaften von Alex, Helga oder Maria gewaschen, gefaltet, verpackt und an Lowensteins, Moseys, Lürbkes und alle anderen in 20 Ländern der Welt geschickt haben, das hat Deborah Brevoort zum Theaterstück »The Women of Lockerbie« inspiriert. Eine große menschliche Geste. »Das werde ich diesen Menschen nie vergessen«, sagt die 80-jährige Suse Lowenstein. Für die dreifache Großmutter und Künstlerin aus Montauk sind sie nichts weniger als »saints«, Heilige.

Ein Bild des Gedenkens von vor zehn Jahren: Der damalige schottische First Minister Alex Salmond legt am 21. Dezember 2013 bei e
Ein Bild des Gedenkens von vor zehn Jahren: Der damalige schottische First Minister Alex Salmond legt am 21. Dezember 2013 bei einer Zeremonie Blumen am Memorial für die Opfer des Ansclags auf Flug PA 103 auf dem Dryfesdale-Friedhof in Lockerbie nieder. Foto: Brian Stewart
Ein Bild des Gedenkens von vor zehn Jahren: Der damalige schottische First Minister Alex Salmond legt am 21. Dezember 2013 bei einer Zeremonie Blumen am Memorial für die Opfer des Ansclags auf Flug PA 103 auf dem Dryfesdale-Friedhof in Lockerbie nieder.
Foto: Brian Stewart

Auch das Gedenken ist wichtig. Trost finden sie und Ursula Funke - wie jährlich rund 7500 andere Besucher - gerade am einstigen Ort des Grauens. Jede der drei ganz bescheiden und dezent wirkenden Gedenkstätten in Lockerbie hält die Erinnerung an die Getöteten lebendig. Wo einst das Kerosin 1500 Tonnen Erde und Stein aus dem Boden sprengte und fünf Häuser zerstörte, finden Trauernde nun in einem versteckten Park mit Findling Ruhe. Auf dem Dryfesdale-Friedhof sind im »Garden of Remembrance« neben dem großen marmornen Gedenkblock Grabsteine und Plaketten der trauernden Familien zu finden. Auch jene der Familie Schäuble und Lowenstein. Auf dem Friedhof von Tundergarth steht ein Grabstein für Helga Mosey - mit Blumen und einem Kärtchen von »Mum, Dad & Marcus«. Im dortigen »Remembrance Room« liegen das dicke Buch mit dem Titel »On Eagles' Wings« sowie ein Ordner mit den Lebensdaten und Bildern der Getöteten, aber auch Gedichten und Songs, die sie schrieben, sowie ein Gästebuch bereit. Wer sie durchblättert, spürt keinen Hass, sondern die Liebe, die von diesen 270 Menschen ausging und für sie weiterlebt. Auch Patrick Huber bezog daraus Informationen für sein Buch. Für ihn wie auch für die einstige Pan-Am-Angestellte Jocelyne Harding war der 21. Dezember 1988 darüber hinaus der Tag, an dem das Herz dieser damals wichtigsten Fluglinie starb. Auf ihrer Clipper-Crew-Internetseite hält sie die Erinnerung daran und an die Opfer aufrecht. Die Syrakus University führt ein riesiges Archiv für alle Angehörigen der damals so grausam aus dem Leben Gerissenen - und erinnert regelmäßig in Sozialen Medien an alle 270 Getöteten.

Zu Gedenkfeiern werden auch an diesem 35. Jahrestag wieder zahlreiche Betroffene und Beteiligte nach Lockerbie, Syracuse oder Washington reisen. Vor fünf Jahren hat Rolf Buwert ganz selbstverständlich Ursula Funke wieder mal nach Dryfesdale begleitet. Seit Corona seien die Feiern in der schottischen Kleinstadt kleiner ausgefallen als zuvor. Er selbst werde dieses Mal »einfach rausgehen um zwei Minuten nach sieben«. Ganz allein. Und zwei Minuten still dastehen. (GEA)

A Synonym for Horror | Clipper Crew

www.der-rasende-reporter.info