REUTLINGEN. »Ich mache meinen Beruf gern«, sagt Christine Weber. »Aber nicht unter diesen Umständen.« Die Krankenpflegerin arbeitet in der Notaufnahme der Kreiskliniken Reutlingen. Zeitdruck, Personalmangel und Ausstattungslücken setzen ihr seit langem zu. Doch der Pflegebonus bringt das Fass zum Überlaufen. »Die meisten Covid-Patienten kommen über die Notaufnahme. Wir behandeln sie ambulant oder stabilisieren sie, wenn die Normal- beziehungsweise Intensivstation voll ist. Bei uns bildet sich dann ein Rückstau, und Notfallpatienten müssen auf dem Flur behandelt werden«, berichtet Weber. »Trotzdem sehen wir keinen Cent.« Mit der Prämie belohnt der Staat die besondere Leistung des Pflegepersonals während der Corona-Pandemie. Doch der Vorstoß geht nach hinten los: Vom Zuschlag profitieren zu wenige und – wie Weber meint – die Falschen. Ihr geht es ums Geld, aber nicht nur. »Vor allem fehlt mir die Wertschätzung.«
Noch hat Weber die Hoffnung nicht aufgegeben, noch kämpft sie für bessere Arbeitsbedingungen. Darum nennt sie nicht ihren echten Namen. Zu groß ist die Furcht vor Sanktionen durch den Arbeitgeber, wenn sie sagt, was viele Kollegen denken. Wenn sie geht, dann auf eigenen Wunsch. Die Kündigung ist schnell geschrieben: Dieser Gedanke geht auch andern durch den Kopf. »Rund zehn Mitarbeiter der Notaufnahme überlegen sich, ob sie die Klinik oder sogar den Beruf wechseln«, erzählt sie.
»Der Pflegebonus sorgt bei vielen Mitarbeitern für Wut und Enttäuschung«
Grund ist der Pflegebonus. Das entsprechende Gesetz hat der Bundestag im Mai beschlossen, die Auszahlung an die Klinikmitarbeiter erfolgte vor wenigen Tagen. Es soll ein Zeichen der »Anerkennung« sein. »Erhöhten Betreuungsaufwand von Covid-19-Infizierten, erhöhtes Risiko einer Eigeninfektion oder erhöhte Hygienemaßnahmen« während der Pandemie honoriert der Staat mit einer Milliarde Euro: 500 Millionen für die Altenpflege, 500 Millionen für die Kliniken.
Bei der Verteilung wird rigoros ausgesiebt. Gerade mal 837 der bundesweit 1.400 Kliniken erfüllen dem Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus zufolge die Kriterien für den Zuschuss. Dafür müssen sie im Jahr 2021 »besonders belastet« gewesen sein, das heißt: mehr als zehn Covid-Patienten länger als 48 Stunden beatmet haben. In den ausgewählten Häusern werden laut Gesetz allerdings nicht alle Pfleger bedacht, sondern nur zwei Gruppen: erstens »Pflegefachkräfte, die im Jahr 2021 für mindestens 185 Tage in der unmittelbaren Patientenversorgung auf bettenführenden Stationen beschäftigt gewesen sind«, und zweitens »Intensivpflegefachkräfte, die im Jahr 2021 für mindestens drei Monate in der Intensivpflege tätig waren«. Zu den Begünstigten zählen laut Deutscher Krankenhausgesellschaft bis zu 300 000 von insgesamt rund 490.000 Krankenpflegern.
Der Betrag ist nicht festgelegt und hängt von der Anzahl der Berechtigten ab. Als Richtlinie genannt werden jedoch 1.700 Euro für Pflegefachkräfte und 2.500 Euro für Intensivpflegefachkräfte. Dabei gehen viele Klinikmitarbeiter leer aus, denen die Pandemie ebenfalls Mehrarbeit aufbürdet: etwa Pflegehelfer, Azubis und FSJler, Pflegefachkräfte in der Notaufnahme, im Operationssaal und in der Psychiatrie, Rettungssanitäter, Hebammen und Reinigungskräfte.
Diese Ungleichbehandlung finden viele Betroffene ungerecht. Im Netz steht auf der Online-Plattform change.org seit Mai eine Petition, die mit dem Slogan »Keine Spaltung der Pflege – Faire Verteilung der Corona-Prämie« bereits knapp 160.000 Unterschriften gesammelt hat. Die Unterzeichner üben scharfe Kritik an der Bundesregierung: »Wir arbeiten Hand in Hand für unsere Patienten!«, heißt es dort. »Dementsprechend akzeptieren wir eine Unterscheidung in Bezug auf Prämien innerhalb der Pflege nicht!«
Schützenhilfe erhält die Petition vom Berufsverband. Präsidentin Christine Vogler teilt auf GEA-Anfrage mit: »Der Deutsche Pflegerat begrüßt die Wertschätzung, die in dem Pflegebonus ausgedrückt wird. Die Art und Weise, wie der Bonus ausgezahlt wird, führt allerdings ins Gegenteil.« Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Verdi bläst ins selbe Horn: »Die zur Verfügung gestellte Summe ist zu gering, um allen in der Pandemie geforderten Beschäftigten eine angemessene finanzielle Anerkennung zu geben«, steht in einem Flugblatt vom April. »Es ist absehbar, dass diese Regelung zu Konflikten führen wird.«
»Mitarbeiter überlegen sich, ob sie die Klinikoder den Beruf wechseln«
Pfleger, Berufsverband, Gewerkschaft: Alle sind unzufrieden mit dem Coronabonus. Wer hat’s dann verbockt? In den Kreiskliniken Reutlingen meint man, den Schuldigen zu kennen: die Politik. In seltener Einigkeit demonstrieren Betriebsleitung und Betriebsrat den Schulterschluss. Ihr Urteil: »Gut gemeint, aber schlecht gemacht.« Geschäftsführer Dominik Nusser kritisiert die »sehr eng gefassten Kriterien«, die dazu führen, »dass nur ein sehr kleiner Teil der Belegschaft den Bonus erhält«. Das betrifft 592 von rund 2.500 Beschäftigten, also etwa ein Fünftel. »Dabei ist die Versorgung von Patienten eine Teamleistung«, betont Nusser. Darum hätte er sich vom Gesetzgeber Spielraum bei der Verteilung der Gelder gewünscht – den gab es aber nicht.
Entsprechend angespannt ist das Betriebsklima. »Der Pflegebonus hat bei vielen Mitarbeitern für Unverständnis, Enttäuschung und Wut gesorgt«, sagt Kathrin Bahnmüller, Leiterin Personal und Recht. Vor allem die Münsinger fühlen sich übergangen. Sie haben Personal nach Reutlingen ausgeliehen und Nicht-Covid-Patienten von dort übernommen, damit sich die Kollegen in der Kreisstadt um Corona-Fälle kümmern konnten. »Wir sind eine Klinik an drei Standorten«, betont Agnes Lamparter, Betriebsrätin der Albklinik Münsingen. Bei der Abrechnungsstelle sieht man das jedoch anders. Dort zählt Münsingen – im Unterschied zum Verbund Reutlingen und Bad Urach – als eigenständige Betriebseinheit, die sich nicht für den Bonus qualifiziert. Derlei formalrechtliche Feinheiten finden bei der Belegschaft kein Verständnis. Dort verlangt man von der Bundespolitik Nachbesserungen bei der Auszahlung – und bekommt Rückendeckung vom Betriebsrat. »Diese Forderung unterstützen wir voll und ganz«, bekräftigt Vorsitzender Frank Münzberg.
Dass die Mitarbeiter Zuspruch von der Führungsriege erhalten, wundert Weber nicht. »Dort versichert man immer wieder, dass man weiß, was wir leisten«, räumt die Pflegerin ein. »Aber es ändert sich nichts.« Die Notaufnahme, so Webers Erfahrung, behandelt in 24 Stunden bis zu 160 Patienten. Einige liegen 17 Stunden lang dort, weil Personal fehlt und auf den Stationen Betten gesperrt sind. Bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn: Natürlich wünscht Weber sich das. Dann wäre das Thema Kündigung vom Tisch. Manchmal würde aber auch schon ein kleines Zeichen helfen: etwa der Verzicht auf die Hochglanzbroschüre, wenn das Geld für die Mitarbeiter fehlt. (GEA)