REUTLINGEN/BERLIN. Angesichts hoher Lebensmittelpreise und hoher Wohnkosten kommt bei vielen Deutschen das Gefühl auf, immer weniger in der Tasche zu haben. Zwar sind auch die Gehälter in den vergangenen Jahren gestiegen, aber eben auch die Ausgaben. Im Jahr 2022 haben sich die Verbraucherpreise laut Statistischem Bundesamt um 7,9 Prozent erhöht. Im aktuellen Jahr liegt diese Quote voraussichtlich bei 6,5 Prozent. Gleichzeitig schlägt die kalte Progression zu: Wer mehr verdient, muss auch mehr Steuern und Abgaben zahlen. Immerhin hier hat die Bundesregierung einiges getan, um diesen Effekt abzuschwächen. Trotzdem bleibt es dabei: Die Mittelschicht in Deutschland hat tatsächlich immer weniger in der Tasche. Eine Übersicht über die Ursachen und mögliche Lösungen.
Wann zählt man in Deutschland zur Mittelschicht?
Laut dem deutschen ifo-Institut rechnen sich rund 80 Prozent der Deutschen der Mittelschicht zu. In Wahrheit gehören aber nur rund 63 Prozent der Deutschen dazu - Tendenz schrumpfend. Laut den aktuellen Zahlen aus dem Jahr 2019 zählt man in Deutschland zur Mittelschicht, wenn wann zwischen 75 und 200 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Ein deutscher Durchschnittshaushalt mit 2,3 Personen verdient in diesem Jahr laut Steuerzahlerbund (BdSt) 7.113 Euro brutto im Monat. Das kann noch einmal genauer aufgeschlüsselt werden: Ein Nicht-Single Haushalt mit durchschnittlich 2,9 Personen verdient 8.318 Euro brutto im Monat. Ein Single-Haushalt hingegen 4.737 Euro brutto pro Monat.
Wie viel Steuern und Abgaben muss ein Deutscher mit Durchschnittsverdienst zahlen?
Einmal im Jahr berechnet der Bund der Steuerzahler (BdSt) den Steuerzahlergedenktag. Dieser fiel in diesem Jahr auf Mittwoch, den 12. Juli. Bis dahin arbeitete der deutsche Durchschnittsverdiener nur für Steuern und Sozialabgaben. Durchschnittlich, so der Steuerzahlerbund, muss ein Angestellter in Deutschland 52,7 Prozent seines Gehalts an den Fiskus abgeben. Zwar sind die Steuern etwa aufgrund des Wegfalls der EEG-Umlage beim Strom gesunken, doch vor allem Abgaben an die Sozialkassen, wie Krankenversicherung und Pflegeversicherung, sind gestiegen. So kam es, dass trotz großer Versprechungen der Politik, die Abgabelast der Bürger im Vergleich zu 2022 nur um 0,3 Prozentpunkte niedriger ist. Matthias Warneke, wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Steuerzahlerinstitut beim BdSt, hält das für äußerst bedenklich: »Die Belastung ist eindeutig zu hoch«, sagt er.

Ist der Mittelstand stärker belastet als reiche oder arme Menschen?
Ja, sagt Warneke vom Deutschen Steuerzahlerinstitut. »Der Tarifverlauf bei der Einkommensteuer ist so, dass man sehr schnell in den Spitzensteuersatz von 42 Prozent rutscht. Schon ein Facharbeiter mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 63.000 Euro fällt darunter«, so Warneke. Ein Problem dabei ist auch der sogenannte Mittelstandsbauch, den Politiker schon seit Jahren abflachen möchten. Die Steuertarife sind so gemacht, dass sie vom Grundfreibetrag bis zum Gehalt von 16.000 Euro sehr steil ansteigen. Dann flacht sich die Kurve mit zunehmendem Gehalt etwas ab, bevor sie dann in die Gerade, den Spitzensteuersatz übergeht. Die Mittelschicht zahlt also im Vergleich zu Geringverdienern oder Spitzenverdienern überproportional mehr Steuern. »Gleichzeitig ist es so, dass die Mittelschicht weniger vom Staat zurückbekommt«, sagt Warnecke. Denn die Mittelschicht verdiene zu viel für bestimmte Sozialleistungen – zum Beispiel Bürger- oder Wohngeld, Kita-Gebührenfreiheit oder volles BAföG für Kinder. Andererseits verdiene sie oft auch zu wenig, um etwa von den Beitragsbemessungsgrenzen in den Sozialversicherungen voll zu profitieren.
Wie sieht das in anderen Staaten aus?
Bei der Belastung der Einkommen durch Steuern und Abgaben liegt Deutschland in Europa ganz weit vorne. Nur in Belgien zahlt man noch mehr an den Staat. Auch in Frankreich gibt es ähnlich hohe Belastungsquoten. Ganz unten bei der Belastung der Einkommen steht die Schweiz. Ledige Durchschnittsverdiener müssen dort nur 25,9 Prozent ihres Einkommens abgeben. Und das, wie Warneke sagt, »ohne dass die Schweiz als unsozial gilt«.
»Eine Reform der Einkommensteuer ist längst überfällig«
Was tut der deutsche Staat zur Entlastung der Mittelschicht?
Auf der Seite des Bundesfinanzministeriums finden sich einige Maßnahmen, die dem Abbau der kalten Progression dienen sollen. Die kalte Progression führt dazu, dass Menschen trotz höherer Löhne weniger in der Tasche haben, weil die Inflation hoch ist und die Lohnerhöhungen durch das Hereinrutschen in einen höheren Steuertarif aufgefressen werden. Zu den Maßnahmen, die dieses Jahr schon gegriffen haben, zählt das Anheben des Grundfreibetrags, auf den keine Steuern gezahlt werden muss. Auch der Kinderfreibetrag wurde angehoben, das Kindergeld wurde erhöht, der Soli für mittlere Einkommen abgeschafft. Die Tarife der Einkommensteuer wurden zudem erhöht, sodass man erst später höher besteuert wird. Weitere Entlastungen, wie der gesenkte Steuersatz auf Erdgas und Fernwärme oder die Komplettabschaffung der EEG-Umlage beim Strom, führen dazu, dass den Menschen etwas mehr in der Tasche bleibt. Die Maßnahmen seien vor allem auf Druck des BdSt auf den Weg gebracht worden, sagt Steuerexperte Matthias Warneke. "Es ist gut, dass etwas zum Abbau der kalten Progression gemacht wird. Da sind wir sehr zufrieden", meint er. Dennoch könnte mehr getan werden, um den Mittelstand zu entlasten. »Eine Reform der Einkommensteuer ist längst überfällig«, meint Warneke.
Wie könnte eine Reform der Einkommensteuer für weitere Entlastungen sorgen?
Im Oktober hat der BdSt einen Vorschlag für eine Reform der Einkommensteuer vorgelegt. »Unser Ziel ist keine Umverteilung, sondern eine Nettoentlastung mit einer moderaten Mehrbelastung der Top-Verdiener und einer spürbaren Entlastung der Mittelschicht«, sagt Warneke, der den Vorschlag mit erarbeitet hat. Erreichen will der BdSt das, indem nicht schon ab 63.000 Euro der Spitzensteuersatz fällig werden soll, sondern erst ab einem Einkommen von 100.000 Euro brutto. So würde der Mittelstandsbauch abgeflacht und viele Menschen würden aus dem Spitzensteuersatz von 42 Prozent herausfallen. Damit das dennoch für den Staat finanzierbar ist, möchte der BdSt einen zusätzlichen Steuertarif für Einkommen ab 1 Million Euro einführen. Menschen, die so viel verdienen, sollen zukünftig nicht wie heute 45 Prozent, sondern 48 Prozent zahlen. Zusätzlich solle der Staat Bürokratie und Subventionen abbauen. Außerdem sollten die Gelder im Sozialsystem effizienter eingesetzt werden. »Es ist interessant, dass zum Beispiel privat geführte Pflegeheime oder Krankenhäuser meist sehr viel effizienter arbeiten, als staatliche«, sagt Warneke dazu. Käme der Vorschlag des BdSt durch, würde laut dessen Berechnungen ein durchschnittlich verdienender Single rund 1.000 Euro weniger Einkommensteuer zahlen. Eine durchschnittlich verdienende Familie zahle sogar fast 2.000 Euro weniger. Durch die Entlastungen würde zudem die Industrie angekurbelt, mehr gearbeitet und - so die Hoffnung des BdSt - auch mehr erwirtschaftet, was wiederum die Staatskassen füllen würde.
Die CDU hat dem BdSt bereits zugesagt, diesen Reformvorschlag als Blaupause für eine Steuerreform zu verwenden - vorausgesetzt die CDU käme in der nächsten Legislatur wieder an die Regierung. Matthias Warneke ist zudem bewusst, dass solch eine Tarifreform der Einkommensteuer ein dickes Brett ist, das es zu bohren gilt. Schnelle Entlastungen der Mittelschicht durch eine Reform sind also noch Zukunftsmusik. (GEA)

