Es tut sich was in der Vitrine im Amsterdamer Anne Frank Haus, in der eines der berühmtesten Tagebücher der Welt ausliegt. »Lieve Kitty« (Liebe Kitty), ist auf einer der handgeschriebenen Seiten zu lesen. Plötzlich entsteigt ein rothaariges Mädchen dem Buch und ruft fragend: »Anne? Wo seid ihr denn alle?«
In dem Animationsfilm »Wo ist Anne Frank« des israelischen Regisseurs Ari Folman ist Anne Franks imaginäre Freundin Kitty, der sie in ihrem Tagebuch schrieb, die eigentliche Hauptfigur. Kitty erwacht zum Leben und nimmt junge Zuschauerinnen und Zuschauer mit auf ihre Suche nach Anne. Sie folgt Annes Spuren, vom Hinterhaus bis zu ihrem Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen.
Das Mädchen Anne wird nicht idealisiert
Dass das Zimmer im Versteck des Amsterdamer Hinterhauses, in dem sich Anne, ihre Familie und andere verfolgte Juden vor der drohenden Deportation in die deutschen Vernichtungslager versteckten, Teil eines Museums geworden ist, begreift Kitty erst nach und nach. Auf der Suche nach Anne trifft Kitty Jugendliche, die Flüchtlinge unterstützen, die sich vor drohender Abschiebung verstecken. Kitty selbst wird als mutmaßliche Diebin des berühmten Tagebuchs landesweit gesucht. Erst nach und nach erkennt sie, dass Anne tot und dank ihres Tagebuchs weltberühmt ist.
Angesichts der Altersgruppe von neun oder zehn Jahren aufwärts, für die der Film gemacht wurde, entschied sich Folman gegen eine realistische Darstellung der Zustände etwa in Bergen-Belsen. So sind die deutschen Besatzer von Art Direktorin Lena Guberman als gesichtslose, riesige Gestalten umgesetzt worden in schwarzen Umhängen mit Helmen, die an Darth Vader erinnern. In den Szenen der Selektion in Auschwitz griff Folman zur Veranschaulichung auf die griechische Mythologie und die Reise in die Unterwelt zurück.
Der Film zeigt Anne mit all ihren Widersprüchen, keine idealisierte Version des Mädchens, das davon träumte, die jüngste berühmte Schriftstellerin zu werden. »Es ist gefährlich, Anne zu sehr zu idolisieren«, sagte Folman der Deutschen Presse-Agentur. »Wir vergessen leicht, dass sie ein normales Mädchen war, ein Teenager. Sie konnte unglaublich witzig sein, aber auch gemein. Sie hatte ungeheure Probleme mit ihrer Mutter, wie viele Mädchen in dem Alter. Sie war eifersüchtig auf ihre «perfekte» Schwester - und all das ist schön und menschlich und gehört auch in den Film.«
Eine neue Sprache für Anne Franks Geschichte finden
Zugleich trägt in dem Animationsfilm die Botschaft der nachdenklichen, politischen und engagierten Anne in die Gegenwart. »Tue alles, was du kannst, um das Leben auch nur eines Kindes zu retten!« ruft sie in einer Szene, die an die Talmud-Weisheit erinnert: Wer ein Menschenleben rettet, der rettet die ganze Welt.
Folman hofft, dass diese Botschaft auch beim jungen Kinopublikum zündet. »Wenn Kinder diesen Film sehen und beschließen, selbst aktiv zu werden, ob jetzt für Flüchtlinge oder für das Klima, dann ist das für mich ein großer Erfolg.«
Kittys Begegnung mit den Geflüchteten im zeitgenössischen Amsterdam bedeute natürlich keine Gleichsetzung mit dem Schicksal der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg, so Folman. »Das lässt sich überhaupt nicht vergleichen. Man muss sich klar machen, dass 1,5 Millionen jüdische Kinder während des Holocaust ermordet wurden, die nicht einmal die Chance hatten, Flüchtlinge zu sein. Niemand hat für sie gekämpft, wie Kitty im Film. Das ist ein kolossaler Unterschied.«
Für den Anne Frank Fonds in Basel, der mit dem Projekt an Folman herangetreten war, ging es darum, gut 75 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Tagebuchs eine neue Sprache zu finden, um die Geschichte für eine neue Generation zu erzählen. Angesichts von zunehmender Leugnung des Holocaust, wachsendem Antisemitismus und Halbwissen gelte es, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Dabei ist der Film nicht das einzige Mittel: Als Graphic Novel ist »Wo ist Anne Frank« beim Frankfurter S. Fischer Verlag erschienen.
Wo ist Anne Frank, Belgien 2021, 104 Minuten, FSK ab 6, von Ari Folman.
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