Nach dem Rücktritt der documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann steht nun die eigentliche Aufarbeitung des Antisemitismus-Skandals auf der Kasseler Weltkunstausstellung aus. »Frau Schormanns Rücktritt war notwendig, aber sicherlich nicht ausreichend«, sagt etwa der Kasseler Architekturprofessor Philipp Oswalt. Der ehemalige Leiter der Stiftung Bauhaus Dessau war auch an der Gründung des documenta-Instituts beteiligt und beobachtet die documenta fifteen als Forscher.
Schormann hatte am Freitag nach einer Aufsichtsratssitzung als Konsequenz aus dem Antisemitismus-Eklat um die documenta in Kassel ihr Amt niedergelegt. Am Montag dann bestellte eben jener Aufsichtsrat Alexander Farenholtz zum Interims-Geschäftsführer. Er soll die Funktion schon am Dienstag übernehmen, das Engagement ist zunächst bis zum 30. September 2022. Die Gesellschafter der documenta lobten ihn in einer Mitteilung als erfahrenen und renommierten Kulturmanager, er sei 1989 unter anderem für die Realisierung der documenta 9 unter der künstlerischen Leitung von Jan Hoet zum Geschäftsführer der documenta GmbH berufen worden. Außerdem war Farenholtz demnach Teil der Leitung für die Weltausstellung Expo 2000 und Verwaltungsdirektor der Kulturstiftung des Bundes.
Vorwürfe wurden schon früh laut
Bereits vor Beginn der diesjährigen documenta, die neben der Biennale in Venedig als wichtigste Ausstellung für Gegenwartskunst gilt, waren Antisemitismus-Vorwürfe gegen das indonesische Kuratorenkollektiv Ruangrupa laut geworden. Kurz nach der Eröffnung Mitte Juni wurde eine Arbeit mit antisemitischer Bildsprache entdeckt worden. Das Werk wurde zunächst verhängt und später abgebaut.
Nach einem Beschluss des Aufsichtsrates um den Vorsitzenden, Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD), und seine Stellvertreterin, Hessens Kunstministerin Angela Dorn (Grüne), soll die Ausstellung nun grundlegend reformiert werden. Dabei sollen externe Experten helfen. Farenholtz möchte nun nach documenta-Angaben zunächst mit der künstlerischen Leitung und dann auch mit dem Team der documenta-Gesellschaft Gespräche aufzunehmen.
Es brauche Konsequenzen auf drei Ebenen, erklärt der documenta-Experte Oswalt. Zum einen fordert er eine Einordnung vorhandener Arbeiten. »Es geht nicht um die Schließung der documenta oder um die Entfernung von Werken, aber einige Arbeiten müssen schnell kontextualisiert werden.« Oswalt zählt dazu etwa Filmarbeiten des Kollektivs Subversive Films aus Brüssel und Ramallah, die wegen der Übernahme von Propagandafilmen einer japanischen Terrorgruppe in die Kritik geraten waren. »Das kann man nicht unkommentiert stehen lassen.«
Zum Zweiten brauche es strukturelle Änderungen. Der Aufsichtsratsvorsitzende, Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD), trage für die Probleme der documenta fifteen nahezu die gleiche Verantwortung wie Schormann. »Das weist auf ein strukturelles Problem hin.« Dass Geselle, von Haus aus Polizist und Kämmerer, nicht mit kulturpolitischen Themen vertraut sei, erweise sich als fatales Problem.
Neuer Gesellschaftervertrag nötig?
»Normalerweise werden solche Aufsichtsräte geleitet von Politikern, die mit dem Feld vertraut sind«, erklärt Oswalt. Es brauche Leute an der Spitze, die auch die entsprechenden Kompetenzen hätten. »Das ist im Moment nicht so.« Eine Änderung des Gesellschaftervertrags sei daher notwendig, damit sich entsprechende Probleme bei der nächsten documenta nicht wiederholen könnten.
Die dritte Ebene seien große Teile der Stadtgesellschaft, denen Oswalt vorwirft, sich getrieben von Lokalpatriotismus in eine Abwehrhaltung eingegraben zu haben. »Es wird teilweise bestritten, dass es einen sachlichen Grund für diesen Konflikt gibt«, erläutert Oswalt. Diese Einbunkerung schade der documenta. Es brauche einen Mentalitätswechsel und einen kritischen Diskurs. Oswalts Fazit: »Die Eskalation haben sich Frau Schormann, Herr Geselle und auch die Stadtgesellschaft selbst zuzuschreiben.« Die Chance auf einen konstruktiven Konflikt sei vertan worden. »Jetzt bleiben alle beschädigt zurück.«
Dennoch hegt Oswalt »eine gewisse Hoffnung« für die documenta. »Die Schau steht vor großen Schwierigkeiten. Es braucht jetzt Änderungen. Dann, denke ich, hat sie eine gute Perspektive.«
Vertrauen eingebüßt
»Die documenta fifteen hat uns den Blick auf vielschichtige andere künstlerische Positionen ermöglicht, jedoch das Vertrauen in ihre Handlungsfähigkeit eingebüßt«, teilte das documenta-Forum mit. »Damit dieses Vertrauen wieder zurückgewonnen werden kann und die documenta in Kassel auch in Zukunft die bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst bleibt, wünscht das documenta-Forum jetzt eine schnelle und kompetente Interimslösung.« Wenig später wurde bekannt, dass Farenholtz Interims-Geschäftsführer wird. Das Forum ist eine Art Freundeskreis, der die Weltkunstschau unterstützt, aber auch eigene Projekte umsetzt.
Im bisherigen Ablauf habe eine positive öffentliche Kommunikation über eine in weiten Bereichen sehr anregende documenta nicht erreicht werden können, monierte es. Um jetzt und künftig Schaden von der documenta abzuwenden, seien Verantwortlichkeiten, Zuständigkeiten und Kommunikationswege aller Organe und Gremien der documenta klar und eindeutig festzulegen. »Das darf nicht dazu führen, dass organisatorische Konzepte sich an einer Struktur orientieren, die der Ausstellung die 'Luft zum Atmen' nimmt und die künstlerische Freiheit von vornherein einschränkt.« Künstlerische Freiheit könne nur mit Vertrauen und Verantwortung ihre Kraft entfalten.
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