PARIS. Wo die Händler im Schatten der mächtigen Kathedrale normalerweise Bücher und Bilder verkaufen - dort herrscht gähnende Leere. Ihre Stände am Seine-Ufer sind verrammelt.
Normalerweise drängen sich hier die Touristen, daran hat auch die Brandkatastrophe von Notre-Dame nichts geändert. Kurz nach dem Feuer, das sich am Mittwoch (15. April) zum ersten Mal jährt, waren die Straßen und Brücken rund um das weltberühmte Wahrzeichen vielleicht sogar so voll wie nie. Notre-Dame steht noch, hat das Feuer schwer beschädigt überstanden - doch nun hat die Corona-Krise die wohl berühmteste Baustelle Frankreichs in einen Dornröschenschlaf versetzt.
Rückblick: Es war ein lauer Frühlingsabend, als die Nachricht vom Feuer in Notre-Dame die Runde machte. Schnell war klar: Das ist weit mehr als ein kleiner Brand, die Kathedrale drohte einzustürzen - der Vierungsturm auf dem Dach tat es. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eilte auf die Île de la Cité - die Seine-Insel, auf der das rund 850 Jahre alte Bauwerk steht. Erst am nächsten Morgen war klar: Das Feuer ist gelöscht, die Kirche vorerst gerettet. Die ganze Welt nahm Anteil, Hunderte Millionen von Spenden kamen für den Wiederaufbau zusammen.
Der gestaltet sich nun schwierig - denn die Sicherungsarbeiten sind ein Jahr später immer noch nicht abgeschlossen. Auf der Baustelle steht ein riesiger Kran, Fenster sind mit Folien verhangen, die mächtigen Strebebögen mit Holz gestützt.
»Doch das Problem ist es immer noch, das Gerüst, das auf dem Dach steht, herunterzubekommen. Das abzubauen, ohne dass das Gewölbe einstürzt, ist immer noch das Schwierigste«, sagt die frühere Kölner Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner. Sie koordiniert die deutsche Hilfe beim Wiederaufbau. »Solange das Problem nicht gelöst ist, sind im Grunde alle anderen Fragen erst mal zurückgestellt.« Vor dem Brand war das Baugerüst für Renovierungsarbeiten auf dem Dach aufgebaut worden. Bei dem Feuer ist es teilweise geschmolzen.
Auch ein deutscher Kunsthistoriker hilft beim Wiederaufbau - Professor Stephan Albrecht von der Universität Bamberg stellt Farbanalysen und 3D-Aufnahmen zur Verfügung. »Von der Universität Bamberg kommt da zum Beispiel das komplette Querhaus innen und außen«, so der Experte. Gleichzeitig werde mit Drohnen an einem aktuellen Modell der Kathedrale gearbeitet, um es mit der Kathedrale vor dem Brand zu vergleichen. »Wenn man die beiden Modelle miteinander vergleicht, kann man zum Beispiel sehen, inwiefern sich die Wände durch den Brand verändert haben.«
Innerhalb von fünf Jahren, das hatte Macron versprochen, soll die Kathedrale wieder aufgebaut werden. Daran gab es von Anfang an Zweifel, jetzt umso mehr. Zwischendurch waren die Arbeiten auch wegen der Bleiverschmutzung unterbrochen - das Blei war während des Brandes geschmolzen.
Je länger es dauert, desto schwieriger ist das auch für die Menschen, die mit der Kirche verbunden sind. Dutzende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in der Kathedrale beschäftigt waren, verloren ihre Jobs. Die Gemeinde war plötzlich heimatlos.
Am vergangenen Karfreitag wurde die schwer beschädigte Kathedrale immerhin Schauplatz einer Art Mini-Messe - allerdings ohne Gemeinde. Der Pariser Erzbischof Michel Aupetit verehrte die vor den Flammen gerettete Dornenkrone, eine Schauspielerin und ihr Kollege lasen Texte vor, ein Violinist begleitete die Zeremonie. Ein surrealer Auftritt: Die Künstler trugen weiße Schutzanzüge und Gummistiefel, die Geistlichen schritten mit Bauhelmen auf dem Kopf zum improvisierten Altar.
Die Lebendigkeit der Kathedrale, die täglichen Messen, die gefeiert wurden - das bewundert auch Helgard Zahlen an Notre-Dame. Am Freitag vor dem Brand hatte sie ihre letzte Führung gegeben. Die heute 78-Jährige führt deutsche Touristen seit 2006 ehrenamtlich für den Verein Casa durch Notre-Dame. Die gelernte Übersetzerin lebt seit Jahrzehnten in Frankreich - am Abend des Brandes hatte sie vor dem Fernseher bis tief in die Nacht um Notre-Dame gebangt. »Es hat mich total erschüttert, dass mir die Tränen gekommen sind.«
Für Notre-Dame hat sie bereits eine Leidenschaft so lange sie denken kann. »Vielleicht auch, weil meine Eltern Kunsthistoriker und Germanisten waren«, erzählt die 78-Jährige. »Ich denke aber auch, dass ich als Kölnerin, die mit dem Dom groß geworden ist, eine gewisse Prägung erfahren habe.« Ab und an besucht sie die Pariser Kathedrale - zumindest von außen, auch wenn im Moment wegen Corona nicht einmal das möglich ist. »Es ist mir fast ein Bedürfnis, die Kathedrale auch in diesem zerstörten Zustand zu sehen und ihren Wiederaufbau zu verfolgen.«
Wie sehr Corona die Arbeiten weiter verzögern wird und nun alles weitergeht - all das ist im Moment unklar. Auch der Pariser Erzbischof Michel Aupetit kann es nicht sagen: »Ich bin ein Erzbischof, kein Prophet.« (dpa)