Ab einem gewissen Alter schaut manch einer auf sein Leben zurück und verspürt den Drang, noch einmal etwas Neues auszuprobieren. Bei Kryptik Joe von Deichkind war es zum Beispiel die Kunst des Bierbrauens. Bei seinem Kollegen La Perla die Wissenschaft der Filterkaffee-Zubereitung.
Auch Erfahrungen wie diese haben das nordische Kollektiv, dessen Mitglieder ihre bürgerlichen Namen an dieser Stelle nicht genannt haben wollen, zum Song »Kids In Meinem Alter« inspiriert, der auf ihrem neuen, achten Studioalbum zu hören ist. Es heißt »Neues vom Dauerzustand« und erscheint am 17. Februar.
Wie gibt man dem Dasein einen Sinn?
In mehr als fünf Minuten reiht Kryptik Joe (48) aneinander, um was es den »Kids« in seinem Alter geht - um die Suche nach »atemberaubenden Gartenlauben«, vegane-glutenfreie-laktosefreie Salami-Pizza und Geheimratsecken. Um Menschen, die jung bleiben wollen, aber zurück schauen, »freier Fall, dem Ende entgegen«. Für sie einer der inhaltlich stärksten Tracks des Albums, erklärt Deichkind im Interview in einem Berliner Tonstudio.
Gezeigt werde »der verzweifelte Versuch, dem viel zu lang geratenen Dasein einen Sinn zu geben«, sagt Porky (45). Viel Selbstreflexion sei da hineingeflossen. Viel Beobachtung, ergänzt La Perla (43). »Es ist eine ehrliche Sache, so wie es in meiner Gefühlswelt aussieht«, sagt Kryptik Joe. Das klingt erfrischend aufrichtig.
Spannend an Deichkind ist ihr Blick auf den Zeitgeist und ihr Talent, diesen mit feinem Witz zu sezieren. In manchen Zeilen erkennt man sich wieder, fühlt sich vielleicht ertappt oder muss darüber schmunzeln. Auf »Neues vom Dauerzustand« gibt es viel zu entdecken.
Das Album startet in gewohnter Deichkind-Manier - mit fetten Elektro-Beats und feinster Wortakrobatik: »Zu viele Bildschirme an/Es fehl'n ein paar Tassen im Schrank/Jetzt ist der Kompass kaputt, mal nicht geguckt/Gehirnzelle futsch«. »Delle im Hirn« kann man als Persiflage auf die überforderte digitale Gesellschaft verstehen. Andere Songs thematisieren den ständigen Fortschritt (»Geradeaus«) oder die »dekadente Abgehobenheit der Superreichen« (mit Clueso: »Auch im Bentley wird geweint«).
Sie wollen mehr als eine Partyband sein
Bei der Arbeit am neuen Album habe ihn auch eine Frage beschäftigt, sagt Kryptik Joe. »Was macht der Hofnarr in der Krise?« Corona, Klimawandel, der Krieg in der Ukraine. »Die Zeiten sind für mich gefühlt immer chaotischer und schlechter geworden«, sagt er. Gefühlt seien sie eine Partyband. »Aber wir können das nicht einfach ausschalten und sagen: Okay, die Fans, die zu uns kommen, die sollen jetzt mal alles vergessen und dann können die das abfeiern, was wir machen. Die großen Themen, die uns beschäftigen, sollen auch so gut wie möglich einfließen, ohne belehrend zu wirken«, sagt er im Interview der Deutschen Presse-Agentur.
Bei Deichkind funktioniert das auch im Zusammenspiel mit den Videos. »In Der Natur« etwa beschreibt vordergründig das naive Verhältnis von Großstädtern zu ebendieser. Es geht um die romantisierte Vorstellung von Entschleunigung, die der Realität nicht standhält: »Ich hänge hier im Wald rum/Ohne Hafermilch und Heizung/Hier versau' ich mir den Look und die Hagebutte juckt«. Assoziative Bilder im dazugehörigen Video lassen an Klimawandel und Krieg denken. Auf diese Weise zeige Deichkind eine Haltung, ohne sie auf einen Satz herunterzubrechen, erklärt La Perla. Sie selbst haben sich schon als eine Art Trojanisches Pferd beschrieben. Die Leute können mit ihnen Spaß haben und feiern. Sie können aber auch innehalten und ein bisschen reflektieren, sagt La Perla. Die Lesart sei bei ihnen nicht eindeutig vorgegeben, das biete die Chance für eigene Gedanken.
Im Sommer gehen Deichkind mit dem neuen Album auf Tour - Auftritte sind in Deutschland, Österreich und der Schweiz geplant. Ihre Live-Shows - kollektive Riesenpartys in technischer Perfektion - komplementieren das Gesamtkunstwerk Deichkind und sind bei den Fans legendär.
Als wie wichtig werden Konzerte, auf denen Menschen feiern und glücklich sind, eigentlich noch wahrgenommen? Und welchen Beitrag leisten sie als Musiker für die Gesellschaft? Mit Fragen wie diesen haben Deichkind sich während des Lockdowns auch beschäftigt. Er habe sich bei der Diskussion um die Systemrelevanz von Kunst und Kultur herabgestuft gefühlt, erklärt Kryptik Joe, bei der Auseinandersetzung aber festgestellt: »Ich mache genau das Richtige.« Porky guckt ihn an, lacht und sagt: »Ich bin so froh, dass du kein Bier mehr braust, sondern wieder Musik machst.« Hört man das neue Album, gibt man ihm recht.
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