Serhij Zhadan bringt es in seiner Dankesrede auf den Punkt: »Es ist traurig und bezeichnend, dass wir über den Friedenspreis sprechen, während in Europa wieder Krieg herrscht. Dieser Krieg ist nicht weit von uns entfernt.« Kurz zuvor hat der ukrainische Schriftsteller und Musiker in der Frankfurter Paulskirche unter lautem Applaus die ehrwürdige Auszeichnung entgegengenommen.
Mit bewegenden Worten erzählt Zhadan, der seine Rede auf Deutsch hält, vom Alltag in Zeiten des russischen Angriffskriegs. Da geht es um einen Mann auf der Suche nach einem Kühlwagen, um die seit einem Monat in der Sonne liegenden Leichen abzutransportieren - und das Selfie, das bei der Übergabe für den Social-Media-Post gemacht wird. Oder es geht um die Raketen der Russen, die Zhadan aus seiner Charkiwer Wohnung im 18. Stock beobachtet.
Aber was verändert der Krieg vor allen Dingen, fragt der 48-Jährige, der zu den wichtigsten Stimmen der ukrainischen Gegenwartsliteratur gehört. »Das Gefühl für Zeit und das Gefühl für Raum. (...) Wer sich im Raum des Krieges befindet, macht keine Zukunftspläne.« Und: »Die Unmöglichkeit frei zu atmen und leicht zu sprechen, das ist es, was die Wirklichkeit des Krieges fundamental von der Wirklichkeit des Frieden unterscheidet. Doch sprechen muss man. Selbst in Zeiten des Krieges. Gerade in Zeiten des Krieges.«
Auszeichnung für Werk und humanitäre Haltung
Seit mehr als 70 Jahren vergibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels den Friedenspreis, der nach dem Zweiten Weltkrieg auch als Signal galt, dass Deutschland seine Lehren aus der Geschichte zieht. Und in den heutigen Zeiten kam die Jury auf der Suche nach einem Preisträger wohl kaum an der Ukraine vorbei. Zhadan werde ausgezeichnet »für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung«, hieß es in der Begründung.
»Zhadan begeistert uns – sprachlich, literarisch, musikalisch«, sagt die Vorsteherin des Börsenvereins, Karin Schmidt-Friderichs. »Sein Engagement für die Menschen in seiner Heimat beeindruckt uns. Er spielt in Metrostationen, holt Menschen aus stark umkämpften Vierteln heraus, liest Gedichte vor vollen Sälen und verteilt Hilfsgüter.«
Neues Buch veröffentlicht
Vor einigen Tagen erschien »Himmel über Charkiw«, Zhadans jüngstes Buch, das seine Social-Media-Einträge versammelt und vom Überleben im Krieg berichtet. »Den Worten des Dichters, der immer wortgewaltig war, kann man jetzt anspüren, was der Krieg mit Menschen macht«, sagt Schmidt-Friderichs. »Seine literarische Stimme ist verstummt. In den sozialen Medien schreibt er weiter: Dokumentierend. Mut machend. Nicht literarisch.« Zhadan selbst hatte erklärt, er wollte den Krieg nicht als literarisches Mittel benutzen.
Der vielfältige Künstler ist bereits seit einigen Tagen in Frankfurt. Auf der Buchmesse liest er Gedichte vor, steht bei einer Musikperformance auf der Bühne und nimmt an Podiumsdiskussionen teil. Er findet klare Worte - etwa wenn er mehr Waffen für die Ukraine fordert oder erklärt, dass die Kultur auch während des Krieges nicht schweigen dürfe, denn das bedeute, »dass die Angst gewonnen hat«.
Ukraine als »heimliches Gastland« der Buchmesse
Es gibt bereits Stimmen, die die Ukraine als »heimliches Gastland« dieser Buchmesse bezeichnen. Bereits am Donnerstag hatte es eine Videoansprache von Präsident Wolodymyr Selenskyj gegeben. Am Samstag kam dann seine Frau, Olena Selenska, persönlich nach Frankfurt und stellte ein Buchprojekt für geflüchtete Kinder vor.
Zhadan beschäftigt sich in seiner Rede auch mit der Frage nach einem schnell geschlossenen Frieden um jeden Preis, der für so viele Politiker zur »Notwendigkeit« gehöre. Dabei macht er klar - und das ist auch ein zentraler Satz in seiner Rede: »Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden«. Die Ukrainer würden ihre Armee unterstützen, »weil wir unbedingt Frieden wollen«. Doch sei die unter dem Vorwand des Friedens angetragene, sanfte und diskrete Form der Kapitulation nicht der geeignete Weg.
Die Laudatio in der Paulskirche hält Sasha Marianna Salzmann, 1985 im russischen Wolgograd geboren. Darin wird Zhadan als bedeutender Dichter und Humanist gewürdigt: »In Zhadans Poesie holt die ukrainische Gesellschaft Luft.« Seine Dichtung sei nie hermetisch, nie in sich verschlossen. Gleichzeitig beschreibt Salzmann, bekannt für Theaterstücke und Romane wie etwa »Im Menschen muss alles herrlich sein«, die besondere Sprache und Poesie des Autoren.
Doch was passiert mit der Sprache in Zeiten des Kriegs? Zhadan berichtet von einer plötzlichen Unfähigkeit, sich dieses vertrauten Mittels zu bedienen. Das sei besonders schmerzhaft und unerträglich, »wenn du es gewohnt warst, der Sprache zu vertrauen und dich auf ihr Potenzial zu verlassen, das dir bislang unerschöpflich schien.«
Zhadan: Schatten des Krieges hinterlässt tiefe Spuren
Zudem verändere der Krieg das Gedächtnis und fülle es mit schmerzhaften Erlebnissen und tiefen Traumata. Natürlich sei Dichtung nach Butscha und Isjum weiter möglich, ja, sogar notwendig. Aber der Schatten (..) »wird in der Nachkriegsdichtung tiefe Spuren hinterlassen und ihren Gehalt und Klang prägen«.
Während der gesamten Zeremonie wirkt Zhadan ernst und traurig. Nur ganz zum Schluss, als er nach minutenlangen Standing Ovations schon die Bühne verlässt, ringt er sich ein Lächeln ab. Zuvor hat er in seiner Rede selbst eindrücklich beschrieben, wie der Krieg den Ausdruck der Menschen verändere: »Der Blick eines Menschen, der über das Sichtbare hinaus geschaut, in die Dunkelheit geblickt und dort sogar etwas erkannt hat – dieser Blick ist für immer anders.«
Und obwohl er berichtet, wie der Krieg die Sprache verändere und beschädige, schafft es Zhadan, optimistisch abzuschließen: »Vielleicht geht die Sprache für einen Moment auf Abstand zu dir, aber sie lässt dich nicht im Stich.« Und das sei wichtig und entscheidend. Denn: »Die Stimme gibt der Wahrheit eine Chance.«
© dpa-infocom, dpa:221023-99-230425/6