Die türkische Popsängerin Gülsen wollte nach eigenem Bekunden nur einen Scherz machen. Dass ihr wegen einer flapsigen Bemerkung irgendwann einmal bis zu drei Jahre Haft »wegen Volksverhetzung« drohen, hätte sie wohl damals nicht gedacht. Bei einem Konzert im April sagte die Sängerin, die »Perversität« eines Bandkollegen sei auf dessen Zeit an einer Imam-Hatip-Schule zurückzuführen. Ein sensibler Bereich für einen Scherz. Denn die religiösen Bildungseinrichtungen sind eines der Lieblingsprojekte der türkischen Regierung und werden stark gefördert - auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erhielt dort seine Ausbildung.
Am Freitag begann der Prozess gegen die Künstlerin. Die Ausreisesperre, die zuvor gegen sie verhängt worden war, wurde beim ersten Termin nicht aufgehoben. Ihr Anwalt bezeichnete die Entscheidung als »unrechtmäßig«. Mehrere Personen, überwiegend Absolventinnen und Absolventen der Imam-Hatip-Schule, waren als Kläger anwesend und drückten ihre Empörung und ihr Bedauern über die Aussage Gülsens aus. Viele betonten, dass sie sich verletzt fühlten und machten ihr den Vorwurf, die Gesellschaft zu spalten.
Gülsen war bereits vor der Kontroverse den religiösen und regierungsnahen Kräften ein Dorn im Auge. Die 46-Jährige ist bekannt für ihre schrillen Auftritte, bei denen sie sich oft auch leicht bekleidet und mit ausgefallenen Outfits zeigt. Außerdem drückte sie offen ihre Solidarität mit Schwulen, Lesben, Bi- und Transsexuellen (LGBT) aus. Die Regierung des türkischen Präsidenten hingegen ist bekannt für eine feindliche Haltung gegenüber der LGBT-Szene. Das Staatsoberhaupt behauptete zuletzt, dass sie die Familienstruktur degenerierten - daher wolle er ihren Einfluss zurückdrängen.
Viele andere Konzerte ebenfalls betroffen
Auch die Popsängerin Aleyna Tilki zeigte sich solidarisch mit der LGBT-Gemeinschaft, weil auf einer Demonstration in Istanbul vor den Gefahren durch Homosexualität für Kinder und die Gesellschaft gewarnt worden war. Die 22-Jährige kritisierte mit einem Tweet die homophobe Aktion. Kurz danach wurde ihr Konzert Ende September abgesagt. Ihre Äußerungen seien nicht »mit unserer Kultur vereinbar« und hätten Betroffenheit in der Bevölkerung ausgelöst, hieß es von den Behörden.
Viele weitere Konzerte waren von willkürlichen Konzertabsagen, einer regelrechten »Cancel Culture«, in den vergangenen Monaten betroffen. Die Sängerin Melek Mosso etwa wurde im Juni auf dem Internationalen Isparta Gül Festival ausgeladen, weil ultrakonservative Jugendverbände erklärten, dass sie Unmoral fördere. Die Künstlerin hatte sich in der Vergangenheit für Frauenrecht eingesetzt.
Oder das Konzert der Band Zakkum, das für September in Sanliurfa angesetzt war. Es wurde abgesagt, weil Vertreter von religiösen Vereinen aufgrund des Bandnamens Bedenken hatten. Bei Zakkum - zu Deutsch Oleander - handele es sich um eine Pflanze aus der Hölle. Dies sei in einer Stadt wie Sanliurfa, die Verbindungen zum Propheten aufweise, nicht angemessen. Erst nach einer Empörungswelle gaben die Behörden nach, das Konzert konnte doch über die Bühne gehen.
Angeblich Sicherheitsbedenken
Nicht nur einzelne Künstler, sondern gleich ganze Festivals wurden diesen Sommer reihenweise abgesagt. Viele Absagen wurden offiziell damit begründet, dass es Sicherheitsbedenken gebe. Der Vorsitzende des türkischen Berufsverbands für Musiker Mesam, Recep Ergül, hingegen hält die zahlreichen Verbote von beliebten Festivals für einen Versuch, Gesellschaft und Kultur nach den Belieben der türkischen Machthaber zu formen. »Wir wissen, dass einige religiöse Gruppen mobilisieren und Beschwerden bei den örtlichen Behörden einreichen, um Festivalverbote durchzusetzen.« Viele Gouverneure und Bürgermeister würden diesen religiösen Gruppen dann nachgeben.
In den türkischen Medien sind zahlreiche Berichte darüber erschienen, dass sich besonders die strengreligiöse, antimodernistische Ismailaga-Gemeinde an ausgelassenen Musikveranstaltungen störe und daher die türkische Regierung unter Druck setze. Der Einfluss besonders dieser religiösen Gruppierung steige rapide. Laut der Tageszeitung »Cumhuriyet« etwa ist es im August zu Treffen zwischen der Ismailaga-Führung und Innenminister Süleyman Soylu sowie mit Justizminister Bekir Bozdag gekommen.
Ergül führt die zahlreichen Festivalverbote in diesem Jahr auch auf die für Juni 2023 angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zurück. Er rechne mit einer weiteren Verschärfung im Vorfeld der Wahlen. Denn die Behörden versuchten die Jugend oder »Generation Z« - diejenigen also, die sich für solche Konzerte interessieren und mit Erdogan wenig anfangen könnten - unter Kontrolle zu bringen. Viele junge Türkinnen und Türken der »Generation Z« gehen nächstes Jahr zum ersten Mal an die Wahlurne. Umfragen zufolge sieht diese Altersgruppe die türkische Regierung eher kritisch.
Die Zensur-Politik in der Musikwelt wird laut Ergül jedoch gar nichts ändern. »Solche Verbote werden immer nach hinten losgehen. Musiker wie Melek Mosso oder Gülsen ins Visier zu nehmen, hat in letzter Zeit nur dazu beigetragen, ihre Popularität zu steigern. Es war im Grunde eine gute PR-Kampagne für sie.«
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