Der gebrechliche Dr. Stotz will seinen Nachlass ordnen und sichert sich für einen fürstlichen Lohn die Dienste des arbeitslosen jungen Juristen Tom Elmer. Zum Job gehören neben der Arbeit eine Wohnung im gleichen Haus, opulente Mahlzeiten, viel Alkohol und stundenlange Kamingespräche.
Schnell zeigt sich, dass die zentrale Rolle im Leben des Dr. Stotz eine mysteriöse Frau spielt. Was führt der Alte im Schilde, als er den jungen Anwalt Kiste um Kiste mit alten Dokumenten und Erinnerungen durchwühlen lässt?
Der Schweizer Autor Martin Suter hat wieder einen richtigen Roman vorgelegt, seinen elften. Der Name der mysteriösen Frau ist auch der Titel: Melody. »Er klingt wie eine Melodie, ist geheimnisvoll und hat etwas Verlockendes«, sagt Suter der Deutschen Presse-Agentur. Und das wiederum klingt wie die Quintessenz der suterschen Schriftstellerei. Zu seinen Geschichten gehören oft so Verlockendes wie Liebe und gutes Essen, ein Faden wie eine Melodie und vor allem Geheimnisse um Schein und Sein. »Bei Melody ist es sogar ganz stark so«, sagt Suter.
Langes Warten
Dr. Stotz kommt mit genügend Alkohol immer mehr in Fahrt, wenn er Tom seine Melody-Erlebnisse häppchenweise präsentiert. Was ist aber aus ihr geworden, nachdem sie vor mehr als 40 Jahren kurz vor der Hochzeit spurlos verschwand? Wirklich spurlos? Der Alte erweist sich als verdammt guter Geschichtenerzähler. Suter hinterlässt auf Toms Suche nach der Wahrheit immer wieder »Schein und Sein«-Spuren: »Suchen wir nicht alle nach einer Geschichte, die uns interessanter macht?« fragt ein Freund von Dr. Stotz etwa.
Anhänger von Suters bunten Roman-Welten mussten sechs Jahre auf das neue Buch warten, seit »Elefant« (2017). In der Zwischenzeit hat er das Protokoll seiner privaten Plaudereien mit dem Autor Benjamin von Stuckrad-Barre über Badehosen, Glitzer und LSD (2020, »Alle sind so ernst geworden«) und eine Roman-Biografie über einen der bravsten deutschen Fußballer, Bastian Schweinsteiger, vorgelegt (2022, »Einer von euch«). Anders halt. Nun also wieder ein Roman ganz im suteresken Stil. Kostprobe: »Am Anfang trug er keine Krawatte. Seine Abschlussnoten waren Krawatte genug, fand er«, oder: »Es roch nach Tabakpfeife, Kaffee und Vergangenem«.
»Melody« ist ein Buch über die Tücken des Alters und die Eitelkeit mancher, vor dem Ableben noch ihre Biografie für die Nachwelt zu schönen. Und natürlich über die ewige Liebe. Darüber weiß Suter einiges, er ist seit fast 45 Jahren mit seiner Frau zusammen. Was ist das Geheimnis einer langen Liebe? Typisch Suter, geheimnisvoll: »Ich bin immer noch dabei, das herauszufinden. Das Leben ist eigentlich zu kurz, um sich richtig kennenzulernen, auch sich selbst.«
Wie ein Gitarrist ohne Verstärker
Mit »Melody« hat Suter auch eine andere Liebe wieder entdeckt: das Schreiben von Hand. Er habe einen Tablet-Computer gefunden, der Hand- in Druckschrift verwandelt. »Dadurch habe ich nicht jeden Tag ein paar Stunden an meinem Schreibtisch gesessen, sondern auch mal auf dem Sofa, im Garten, in der Bahn geschrieben - ganz «unplugged», wie ein Gitarrist ohne Verstärker«, erzählt er. Es war eine gute Erfahrung. »Durch moderne Technik werde ich immer altmodischer, ich schreibe wieder von Hand, wie mit 16«, sagt Suter.
Und noch einmal Melody: Was ist die Moral von der Geschicht'? »Meine Geschichten haben eigentlich keine Moral«, sagt Suter. »Aber ich weiß, was Sie meinen. Es ist vielleicht: Es gibt nicht nur eine Wahrheit, es gibt viele Wahrheiten.«
Martin Suter: Melody, Diogenes Hardcover, 336 Seiten, 26 Euro, ISBN 978-3-257-07234-1
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