BERLIN. Er hätte noch lange so weitermachen können, mit den 1964 gegründeten, bald sehr erfolgreichen Walker Brothers. Schmachtfetzen wie »Make It Easy On Yourself« oder »The Sun Ain't Gonna Shine (Anymore)« waren sogar für die Beatles eine ernsthafte Konkurrenz.
Doch Scott Walker strebte nach neuen Ufern, nach Höherem. So beendete er 1967 die emsige Hit-Produktion der Brüder, die gar keine waren, und schuf vier Soloalben mit Songs wie Kathedralen. Damit revolutionierte er die Popmusik.
Der Einfluss des Anfang 1943 als Noel Scott Engel im US-Bundesstaat Ohio geborenen, nun mit 76 Jahren gestorbenen amerikanisch-britischen Sängers und Komponisten ist kaum hoch genug einzuschätzen. Besonders deutlich färbten Walkers Stil und seine fabelhafte Baritonstimme auf David Bowie, Nick Cave, Marc Almond, David Sylvian, Pulp-Frontmann Jarvis Cocker oder den kürzlich gestorbenen Mark Hollis (Talk Talk) ab. Seine konsequente Haltung als Künstler mit Mut zur Avantgarde - und damit zum Risiko - schlug aber auch zahllose andere Musiker in Bann.
So bezeichnete Radiohead-Frontmann Thom Yorke am Montag Scott Walker als »riesigen Einfluss« für seine Band und ihn selbst. »Er zeigte mir, wie ich meine Stimme und Worte benutzen konnte.« Zudem sei dieser Musiker »so ein netter, feiner Außenseiter« gewesen, der nun sehr vermisst werde. Auch das britische Label 4AD, das Walkers Tod bekannt machte, würdigte den »Solokünstler, Produzenten und Komponisten von kompromissloser Originalität«.
Beide Statements spielen nicht zufällig auf den genialen Querkopf Walker an. Seine Wandlung - vom geschmeidigen Bombast-Pop der Walker Brothers über die orchestralen Solo-Alben der späten 60er und viele Dürrejahre bis zu den sperrigen Sound-Experimenten seit dem Comeback »Tilt« (1995) - gehört zu den faszinierendsten Metamorphosen im Pop. »Eine der rätselhaftesten Figuren der Rockgeschichte« nennt ihn das Internet-Musiklexikon »Allmusic«.
Marc Almond (Soft Cell), einer von Walkers treuesten Gefolgsleuten, schrieb »traurig und schockiert«: »Er gab mir so viel Inspiration, ich schulde ihm so viel.«
Als der gutaussehende junge Sänger mit seinen »Brüdern« John Maus und Gary Leeds vor 55 Jahren zum Teenie-Idol wurde, schien der Weg zu dauerhaftem Ruhm vorgezeichnet. Das Potenzial der Walker Brothers war mit den Hits noch nicht ausgeschöpft - was sich Mitte und Ende der 70er, bei einem Comeback des Trios mit drei mutigen, weniger erfolgreichen Alben, dann auch bestätigte.
Inzwischen hatte Walker, der britischen Fan-Hysterie überdrüssig, längst das Ruder herumgeworfen. Das Wunderwerk der vier Alben »Scott« bis »Scott 4« (1967 bis 1969) dürfte heute noch jeden ergreifen, der ein Gespür für große, ambitionierte Popmusik hat. Walker zollte hier in gewaltigen Arrangements Vorbildern wie dem belgischen Chansonnier Jacques Brel (»Mathilde«, »Amsterdam«) Tribut, aber auch Songschreibern wie Burt Bacharach (»Windows Of The World«) oder Tim Hardin (»Black Sheep Boy«).
Vor allem aber präsentierte sich der von Frank Sinatra und Phil Spector beeinflusste Mittzwanziger zu dieser Zeit selbst als Songwriter der Extraklasse. Denn überwiegend waren die vier frühen Walker-Alben mit eigenen Liedern bestückt, die den Geist seiner Helden stilsicher aufnahmen. Von »Montague Terrace (In Blue)« auf dem Solodebüt bis zu »Rhymes Of Goodbye«, dem letzten Stück auf »Scott 4«, leistet er sich keinen Fehltritt.
Obwohl die Alben teilweise noch die Top Ten der britischen Charts erreichten (»Scott 2« sogar Platz 1), war das Publikum von so viel kreativer Wucht und Eigenständigkeit zunehmend überfordert. In den 70er Jahren verlegte sich Walker auf einige leichtgängige (Flop-)Alben mit Coverversionen - und auf besagte Reunion der Walker Brothers. Sein schwieriges Solowerk »Climate Of Hunter« (1983), so hieß es, sei das am schwächsten verkaufte Album des Labels Virgin gewesen.
Ein unwillkommener Rekord - denn Walker haderte bisweilen durchaus mit seinem Avantgardisten-Status. »Ich bin zum Orson Welles der Musikindustrie geworden«, sagte er 1995, beim erneuten Comeback, der Zeitung »The Independent«. »Man will mit mir Mittagessen, aber niemand will den Film finanzieren.«
Walkers Musik, die es zu finanzieren galt, war allerdings auch oft nicht leicht verdaulich. Gewöhnungsbedürftig war etwa der schroffe Sound von »The Drift« (2006), den seine Band teilweise mit Hieben auf Schweinehälften erzeugte. So blieb Scott Walker, der kaum Interviews gab und sich in der Öffentlichkeit rar machte, während seiner späten Karrierejahre ein Künstler für Kenner und ein Kritikerliebling. Freilich mit einer legendären Vergangenheit als Komponist einiger der anmutigsten, berührendsten Melodien der Pophistorie. (dpa)