STOCKHOLM. Eigentlich hätte es zu dieser Zeit schon begonnen: Das Wetten, das Spekulieren, die Geheimniskrämerei. Wer könnte den Literaturnobelpreis bekommen? Denn am ersten oder zweiten Donnerstag im Oktober wird der wichtigste Literaturpreis der Welt normalerweise verkündet.
Mit ernster Miene tritt die Jury dann durch die hohe, goldverzierte Tür der Schwedischen Akademie in Stockholm, die Literaturwelt hält den Atem an - und meistens gibt es eine Überraschung. In diesem Jahr aber gehen alle Spekulationen ins Leere. Es wird keinen Literaturnobelpreis 2018 geben.
An den Kandidaten liegt es nicht. Denn ihre Shortlist mit fünf Namen hatte die Jury dem Vernehmen nach schon zusammen. Das war im Frühjahr, bevor sich das so auf Würde, Ehre und Aufrichtigkeit bedachte Gremium selbst zerfleischte. Der größte Skandal seit der Gründung der Schwedischen Akademie 1786 zerstörte das Vertrauen, beschädigte den Ruf.
Es ist ein Drama in mehreren Akten: Zuerst der Vorwurf, Jean-Claude Arnault, der Ehemann von Akademiemitglied Katarina Frostenson, habe Frauen sexuell belästigt. Eine Untersuchung bestätigte »unakzeptables Verhalten in Form von unerwünschter Intimität«. Inzwischen sitzt Arnault in Untersuchungshaft. Doch damit nicht genug: Das Paar soll sich selbst Fördergelder zugeschanzt und die Namen von Nobelpreisträgern ausgeplaudert haben. Das kann angesichts der lebhaften Wettgemeinde durchaus lukrativ gewesen sein.
Erst versuchte die Akademie, die Skandale kleinzureden. Dann legten namhafte Mitglieder die Arbeit nieder. Die einflussreiche Juryvorsitzende Sara Danius musste gehen. Von den einst »ehrwürdigen 18« waren plötzlich nur noch 9 Mitglieder aktiv - so wenige, dass der sonst so zurückhaltende schwedische König Carl XVI. Gustaf seine »große Sorge« über die Arbeitsfähigkeit der Akademie ausdrückte. So wenige auch, dass sie allein keine neuen Mitglieder berufen konnten.
Seitdem siecht die Schwedische Akademie dahin. Man fetzt sich, langt im Wortgefecht immer wieder unter die Gürtellinie. Die Sache ist noch lange nicht vom Tisch - auch wenn im Sommer etwas Ruhe einkehrte. Die jahrhundertealten Statuten wurden um eine Loyalitätspflicht ergänzt. Kurzzeitig schien es sogar, als könnten drei passive Mitglieder zurückkehren und damit die Wahl neuer Mitglieder ermöglichen. Die »ehrwürdigen 18« könnten zumindest wieder »18« sein - wenn sie sich ihren Ruf auch erst wieder erarbeiten müssten.
Doch die drei, Kjell Espmark, Peter Englund und Sara Danius, ruderten zurück. »Möglicherweise - möglicherweise« könnten sie an wichtigeren Abstimmungen teilnehmen, »nichts anderes«, erklärten sie. Damit zementieren sie ihre Machtposition, denn solange die drei eine Beteiligung an Neuwahlen verweigern, können sie Druck auf verbliebene Mitglieder ausüben, die den Skandal kleinzureden versuchen.
Immerhin hat es die Akademie in all dem Wirbel geschafft, die fünf Namen auf ihrer Frühjahrs-Shortlist geheim zu halten. Wer da drauf steht, könnte noch wichtig werden, denn der Preis soll im kommenden Jahr nachgeholt werden. Ob dann vielleicht - als sichere und unangreifbare Wahl - einer der ewigen Favoriten eine Chance hat?
Ein paar Namen werden mit stoischer Geduld nämlich jedes Mal genannt, wenn man in der schwedischen Kulturszene nach dem Literaturnobelpreis fragt. Die Kanadierin Margaret Atwood. Philip Roth. Der syrische Poet Adonis und der Israeli Amos Oz. Oder doch der Kenianer Ngugi Wa Thiong'o, den schon im vergangenen Jahr viele als Geheimfavoriten auf der Liste hatten, weil es mal wieder Zeit für einen afrikanischen Preisträger sein könnte?
Auch der Japaner Haruki Murakami steht auf diesen Listen immer ganz oben. Dieses Jahr hätte er in jedem Fall gute Chancen auf einen Anruf aus Stockholm gehabt. Allerdings nicht von der Nobeljury, sondern von der »Neuen Akademie«, einem Zusammenschluss schwedischer Kulturschaffender, die am 12. Oktober einen alternativen Literaturpreis vergeben wollen. Auf deren Shortlist stand Murakami zunächst neben dem britischen Fantasy-Autor Neil Gaiman, der Kanadierin Kim Thuy und Maryse Condé aus Guadeloupe.
Doch der 69-Jährige will damit nichts zu tun haben. Es sei zwar eine große Ehre, doch er wolle sich lieber aufs Schreiben konzentrieren, weit ab aller medialer Aufmerksamkeit, teilte er der Jury mit. Vielleicht, so spekuliert die Szene, weil er sich eben doch noch Chancen auf einen echten Nobelpreis ausrechnet, dem ein Alternativ-Preis eher im Weg stünde. Als Marathonläufer hat Murakami jedenfalls schon öfter langen Atem bewiesen.