Skandale sind bei der documenta keine Ausnahme, sondern die Regel. Doch keine der 14 vorangegangenen Weltkunstausstellungen in Kassel hat so polarisiert wie die documenta fifteen. Die immer neuen Antisemitismus-Vorwürfe gegen die Schau haben alles andere in den Schatten gestellt. An diesem Sonntag endet die Ausstellung nach 100 Tagen. Die Debatte um die documenta als Institution ist damit aber noch lange nicht abgeschlossen.
»Die Bilanz der documenta ist ernüchternd«, lautet das Fazit von Hessens Kunstministerin Angela Dorn (Grüne). Es seien Werke gezeigt worden, die nicht hätten gezeigt werden dürfen, teilte die stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der documenta gGmbH auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit.
Dorn betonte erneut, die Verantwortung für die ausgestellten Werke habe exklusiv bei den Kuratoren gelegen. Leider habe das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa diese Verantwortung nicht übernommen, »sondern nach dem Prinzip der verteilten Verantwortungslosigkeit gehandelt und zugelassen, dass Anhänger der Israel-Boykott-Bewegung BDS die documenta für ihre Agenda instrumentalisieren«.
Monatelange Debatte
Dem Eklat auf der documenta war eine monatelange Antisemitismus-Debatte um die Schau vorausgegangen. Zum Jahresbeginn waren erste Stimmen laut geworden, die Ruangrupa und einigen eingeladenen Künstlern eine Nähe zur anti-israelischen Boykottbewegung BDS vorwarfen. Kurz nach der Eröffnung der documenta fifteen im Juni, an der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier angesichts der Vorwürfe nur nach einigem Zögern teilgenommen hatte, wurde ein Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi mit judenfeindlichen Motiven entdeckt und abgebaut.
In den folgenden Wochen tauchten weitere Werke auf, die scharfe Kritik und Forderungen nach Überprüfung der Werke sowie nach einem Abbruch der Schau auslösten. Die Gesellschafter beriefen ein Expertengremium zur Aufarbeitung des Eklats.
Für Ruangrupa sei damit eine rote Linie überschritten worden, sagte Ruangrupa-Mitglied Farid Rakun kürzlich dem Berliner Kunstmagazin »Monopol«. Bei der Einsetzung des Beirates habe sich den Kuratoren der Eindruck vermittelt, dass das Gremium »letztlich ein verlängerter Arm der Politik« gewesen sei. »Das ist für viele von uns traumatisch, auch für uns aus Indonesien. Wenn der Staat etwas tut, um seine Macht durch andere, in diesem Fall durch Wissenschaftler, auszuweiten, ist das sehr beunruhigend.«
Strukturen der Ausstellung sollen überprüft werden
Mit Blick auf die Ereignisse der vergangenen Wochen sagte Angela Dorn jetzt: »Die Strukturen der documenta waren damit überfordert.« Sie würden daher nach dem Beschluss der Gesellschafter, der Stadt Kassel und dem Land Hessen, mithilfe des Expertengremiums einer Überprüfung unterzogen. »Denn wir brauchen eine gründliche, ehrliche Analyse, und wir brauchen Konsequenzen«, so Dorn. »Es ist unsere Aufgabe als Gesellschafter der documenta, sie so aufzustellen, dass sie auch in Zukunft ihren weltweit einzigartigen Rang als weltweit bedeutende Ausstellung für zeitgenössische Kunst in Kassel behält.«
Die stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dorothee Bär, glaubt wie sie sagt nicht an einen Neustart der documenta aus eigener Kraft. Diesen Schluss lege die Art des Krisenmanagements nahe. Bär spricht von einem »Cocktail aus verworrenen Strukturen, einem Kuratorenkollektiv, das das Zündeln nicht lassen will, einer Leitungsebene, die der BDS-Bewegung nahe steht, und einem politischen Umfeld, das nicht eingreifen konnte oder es nicht wollte.«
Sie erklärte: »Mit oder ohne Aufklärung der Antisemitismus-Vorfälle: Die documenta fifteen wird als Desaster in die Geschichte eingehen.« Erst vergangene Woche hatte die CSU-Politikerin die sofortige Schließung der Ausstellung sowie die Rückforderung der über die Kulturstiftung des Bundes als Mittelgeber an die Ausstellung geflossenen 3,5 Millionen Euro gefordert.
Scheitern der Kunstausstellung droht
An der Forderung der Rückzahlung der Bundesmittel halte die Fraktion auch weiterhin fest, betonte Bär. Zudem müsse »mit aller Entschlossenheit eine grundlegende Strukturreform« angegangen werden. »Sollte es zur nächsten documenta in fünf Jahren Anzeichen geben, dass sich dieser Cocktail wiederholen könnte, dann gibt es einfach keinen Cent mehr, jedenfalls nicht von der öffentlichen Hand. Dann ist die Weltkunstausstellung in Deutschland gescheitert.«
Und was bleibt von der Kunst auf der documenta fifteen? »Diese documenta hatte es angesichts der sie begleitenden Antisemitismusdebatte nicht leicht, ihre eigentlichen künstlerischen Anliegen zu platzieren«, sagte der Interims-Geschäftsführer der Schau, Alexander Farenholtz. »Ich wünschte mir, dass die Ausstellung in der Retrospektive auch als das wahrgenommen werden kann, was sie in der Wahrnehmung vieler Besucherinnen und Besucher auch war: nämlich ein künstlerisches Unterfangen, das drängendste Fragen unserer Zeit adressiert.«
Die Künstler selbst fühlten sich unfair behandelt, sagte kürzlich die kubanische Künstlerin Tania Bruguera, die mit dem Kollektiv Instar auf der documenta vertreten ist. Die Entfernung des Banners von Taring Padi sei richtig gewesen, erläuterte sie dem »Monopol«. Es habe sich aber so angefühlt, als ob alle Teilnehmer in eine Diskussion hineingezogen worden seien, die nicht ihre gewesen sei.
»Plötzlich mussten wir alle befürchten, als antisemitisch abgestempelt zu werden, weil wir in dieser Ausstellung waren«, sagte Bruguera. Man müsse berücksichtigen, dass andere Länder in der Welt eine andere Geschichte mit Israel hätten als Deutschland. Als Staat habe Israel Dinge getan, die man auch kritisieren könne.
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