Es war ein Gänsehautmoment, als das deutsche Rock-Trio Die Nerven in Jan Böhmermanns »ZDF Magazin Royale« vor einigen Monaten seinen neuen Song uraufführte.
»Europa« vibrierte vor Zorn und Fassungslosigkeit - wohl jedem Zuschauer und jeder Zuschauerin ging sofort durch den Kopf, was derzeit auf dem Kontinent und speziell in der von Russland angegriffenen Ukraine geschieht.
Eine von sanfter Akustikgitarre eingeleitete Postpunk-Explosion, emotional und aufwühlend: »Und ich dachte irgendwie/in Europa stirbt man nie...« - mit dieser Textzeile bringen die in Berlin und Baden-Württemberg lebenden Musiker Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kühn ihre Trauer über Flüchtlings- und Kriegselend zum Ausdruck. »Lernen aus den Fehlern/lernen aus dem Leid...« - die Nerven scheinen es der Welt nicht mehr zuzutrauen und erzählen davon in einer an Nirvana oder Ton Steine Scherben erinnernden Eindringlichkeit.
Schlackenloser Sound
Wenn es dieses Jahr in Deutschland neben dem - dagegen fast gemütlich anmutenden - Tocotronic-Album »Nie wieder Krieg« kluge, kritische Musik zur tristen Zeit gibt, dann ist es die selbstbetitelte fünfte Platte der 2010 in Esslingen gegründeten Nerven. Neben zehn Songtexten zum Nachdenken, Stirnrunzeln und Bewundern liefert die Band einen kathedralengroßen, gleichwohl schlackenlosen Sound, wie es ihn bei einer hiesigen Rock-Produktion schon lange nicht mehr zu genießen gab - was nicht zuletzt an der Expertise des momentan vielleicht angesagtesten deutschen Studiotüftlers Max Rieger liegt.
»Wir haben im Songwriting bewusst jegliches überschüssige Fett abgeschnitten, um zu einer Essenz der jeweiligen Songs zu finden und sie nicht hinter Schnörkeln zu verstecken«, sagt der 29-Jährige im Interview der Deutschen Presse-Agentur und fügt später hinzu: »Das Album sollte aus allen Nähten platzen, auch wenn es auf Zimmerlautstärke abgespielt wird.«
Daher wirken die Gitarrenwände der Nerven, so mächtig sie sich auch auftürmen, nie nur bombastisch. Und Streicherarrangements wie im melancholischen »Ein Influencer weint sich in den Schlaf« oder im abschließenden »180°« sind hier nicht der übliche Sound-Zuckerguss, sie unterstützen vielmehr die intensive Botschaft der Texte.
Apropos: Selten lohnt bei einem Deutschrock-Album schon rein textlich so sehr das genaue Zuhören wie in diesem Fall - übrigens nicht zum ersten Mal, siehe die Vorgänger »Out« (2015) oder »Fake« (2018). In einem Musikjahr, das starke neue Werke der Hamburger-Schule-Helden Tocotronic, Jochen Distelmeyer (Blumfeld) und Die Sterne hervorgebracht hat, liegen die Nerven als intelligente Beobachter und Schilderer deutscher und europäischer Wirklichkeiten ganz vorn.
Das Leben im Elfenbeinturm
Dabei hat selbst ein Lied wie »Europa«, das jetzt so schmerzhaft in den Ohren klingelt, eine längere Vorgeschichte. Es sei schon »2019 entstanden, vor Corona und auch vor dem Krieg in der Ukraine«, betont Rieger im dpa-Interview. »Das Gefühl, dass in Europa etwas nicht stimmt, ist nicht erst in den letzten drei Jahren in die Welt gekommen.« Es gehe »um die schleichende Einsicht, dass wir im Elfenbeinturm Europa nur deswegen so dekadent und gut leben können, weil dafür Menschen außerhalb unseres Blickfelds leiden müssen. Durch Corona und den Angriffskrieg Russlands ist eine neue Ebene in den Song gekommen, der aber natürlich so nicht geplant gewesen war.«
Der zweite Track »Ich sterbe jeden Tag in Deutschland« richtet den Blick noch stärker auf das eigene Umfeld - manche provozierende und skeptische Äußerung der Nerven wird Hurra-Patrioten und Rechtsauslegern nicht gefallen. Das Thema des Punkrock-Krachers sei »die Ambivalenz, in diesem Land zu leben, in dem viele Menschen sicher und zufrieden sind, es aber auch an vielen Ecken und Enden bröckelt«, erklärt der Sänger.
Weniger politisch kommen das berührende »Influencer«-Stück (Rieger: »nicht ironisch gemeint, sondern sehr wohl tragisch«) und »15 Sekunden« (über eine »stark verkürzte eigene Aufmerksamkeitsspanne«) daher. Wie auch hier gibt es über das gesamte Album verstreut Textzeilen, die sich auf T-Shirts drucken ließen, weil sie so griffig, clever, witzig sind (Beispiele: »Der Tod läuft nicht gut auf Instagram« oder »Du hast 15 Sekunden - biete mir was an«).
Die Wucht guter Rockmusik
»Es war uns nicht wichtig, T-Shirt-Slogans zu entwerfen«, entgegnet Rieger indes. »Sondern eher, mit möglichst wenigen und möglichst einfachen Worten eine Sache auf den Punkt zu bringen - aber möglichst so, dass es ausreichend Interpretationsspielraum gibt, um sie in mehrere Richtungen zu deuten.«
Das Album »Die Nerven« ist ein seltenes Phänomen: ein visionäres Werk, das die Wut von Punk, die Wucht guter Rockmusik sowie die Wachheit und Empathie der Singer-Songwriter-Zunft in sich vereint. Der renommierte Pop-Buchautor Maik Brüggemeyer (46, »Rolling Stone«) ahnt in seinem aktuellen Newsletter bereits: »Ein Album, das wir in den nächsten Monaten noch oft zitieren werden.«
Sicher ist bereits jetzt, dass Rieger/Knoth/Kuhn mit ihrer neuen Studioveröffentlichung bald in vielen Jahresbestenlisten stehen werden. Ob sich der Status als Kritikerlieblinge auch in verdiente größere Verkaufserfolge ummünzen lässt? Es erscheint - nicht nur wegen des schönen Hundekopf-Covers - durchaus möglich. Für Max Rieger ist das gewiss nicht entscheidend bei einem künstlerisch so gelungenen Album, aber er sagt auch: »Wir nehmen, was wir kriegen.«
Das selbstbetitelte fünfte Album (»Die Nerven«) von den Nerven erscheint am Freitag (7.10.) bei Glitterhouse/Indigo.
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