Obwohl Marlene Dietrich zu den bekanntesten Frauen ihres Jahrhunderts zählte, bekam kaum jemand sie in ihren letzten Jahren zu Gesicht. Die Filmikone, die vor 30 Jahren starb, hielt zuletzt selbst gute Bekannte auf Abstand.
»Sie telefonierte zwar mit mir ununterbrochen und ich mit ihr«, erzählte die Sängerin Hildegard Knef. Einmal habe sie Dietrich Bescheid gegeben, dass sie vor ihrer Wohnung stehe. Marlene habe ihr dann mit der geschlossenen Gardine zugewedelt.
Den Namen »Marlene Dietrich« umgibt bis heute viel Legendäres. Einige kennen sie als Sexsymbol, als Schauspielerin und Sängerin (»Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt«). Manche wissen, dass sie im Zweiten Weltkrieg US-Truppen mit ihren Shows unterstützt hat. Als sie am 6. Mai 1992 stirbt, hat sie fast ein Jahrhundert Geschichte erlebt. Was macht Dietrich bis heute so besonders?
Modeikone
»Das ist etwas, was jeder für sich selbst entdecken muss oder entdecken kann«, sagt die Kulturwissenschaftlerin Silke Ronneburg. Sie verwaltet Dietrichs Nachlass in der Deutschen Kinemathek in Berlin. »Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass Leute, die sich mit ihrer Filmhistorie gar nicht auskennen, auf Marlene als Modeikone gucken.« Dazu zähle die Marlenehose - eine weite Hose mit geradem Schnitt.
»Aber es gibt auch dieses weltweit verankerte Icon von Marlene in Männerkleidung«, sagt Ronneburg. Das sei in den 1920ern in Berlin kein Tabu mehr gewesen, aber sie habe es international durchgesetzt. Etwa als sie 1933 zu einer Premiere nach Paris gekommen sei - im Tweedanzug mit Krawatte und Baskenmütze. »Sie sah aus wie ein Mann unter Männern.« Dabei sei es Frauen in Frankreich damals verboten gewesen, öffentlich Hose zu tragen, solange sie nicht mit Pferd oder Fahrrad unterwegs waren. »Das galt als Skandal.«
Dietrich sei sehr facettenreich gewesen, sagt Ronneburg. »Wenn man es genau nimmt, konnte sie gar nicht gut singen. Sie war auch als Schauspielerin mehr oder weniger limitiert. Aber was sie gemacht hat, hat sie bis zur Perfektion getrieben.« Sie habe einen Hang zur Perfektion, zur Disziplin und auch zur Kontrollsucht gehabt. »Sie war eigentlich gefürchtet, wenn sie zu Fotosessions ins Studio eingeladen war. Dann kam sie und gab gleich Anweisungen.«
Image bewahrt
Bis zum Schluss habe sie versucht, Kontrolle zu behalten, im selbstgewählten Exil in ihrer Pariser Wohnung. »Nachdem sie so an ihrem Image gearbeitet hat, nachdem sie die Marke «Marlene» aufgebaut hatte, war sie darauf bedacht, dass das, was ihr im Alter widerfuhr, an diesem Image nicht mehr kratzt«, sagt Ronneburg. Und beigetragen zu ihrem Image hatten zahlreiche Auftritte.
Bekannt wurde Marlene Dietrich, die im heutigen Berliner Stadtteil Schöneberg geboren wurde, mit dem Film »Der blaue Engel« (1930). Mit Strümpfen und Zylinder spielte sie eine Sängerin, die mit einem Professor anbandelt. Der Dokufilm »Marlene Dietrich - Her own Song« ihres Enkels J. David Riva erzählt etwa von ihrem Umzug in die USA.
Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten wurde ihr Verhältnis zu Deutschland schwieriger. Während des Kriegs trat sie in Frontshows für amerikanische Soldaten auf. Ein Kapitel, das sie auch nach Kriegsende begleiten sollte. Online findet man tolle Videoausschnitte, in denen sie das Anti-Kriegs-Lied »Sag' mir, wo die Blumen sind« singt. Sie trat auch später oft als Sängerin auf und drehte etwa mit Billy Wilder und David Bowie.
Die letzte Adresse
Dass sie der Inbegriff einer Ära ist, merkt man schon an einem Wort. Wenn manche von ihr reden, ist sie schlicht »die Dietrich«. Bei heutigen Diven funktioniert das weniger gut. »Die Kardashian«? Da wüsste man schon nicht, welche eigentlich gemeint ist.
Nach Jahrzehnten der Öffentlichkeit zog sich Marlene Dietrich zurück, auch nachdem ihr ein Unfall in Australien zugesetzt hatte. 12, Avenue Montaigne im schicken Pariser 8. Arrondissement: Das war ihre letzte Adresse. Dietrich liebte die Stadt und ihr Versteck. Im vierten Stock eines luxuriösen Appartementhauses entsagte sie der Welt. Zwischen 1977 und ihrem Tod 1992 soll sie die Wohnung nur äußerst selten verlassen haben, wie ihre ehemalige Sekretärin Norma Bosquet im Buch »Marlene Dietrich: les derniers secrets« (Marlene Dietrich: die letzten Geheimnisse) schrieb.
Der Rundfunkjournalist Louis Bozon gehörte zu den wenigen Menschen, die Dietrich besuchen durften. Bozon besaß ihren Hausschlüssel und erledigte für sie auch viele Dinge des Alltags. Sie habe sich vor der Welt versteckt, um ihr Image als Marlene Dietrich nicht zu beschädigen, sagte er dem Online-Magazin »Causeur«. Der heute 87-Jährige war über 30 Jahre mit der Schauspielerin befreundet. 2012 brachte er das Buch »Marlène Dietrich: Allô mon ange, c'est Marlène« heraus. Mit »Hallo, mein Engel, hier ist Marlène«, wie der Titel auf Deutsch heißt, hatte die Diva ihn in ihren Telefonaten begrüßt.
Von der Welt zurückgezogen
Die Wohnung umfasste seiner Beschreibung nach ein großes Wohnzimmer mit zwei Konzertflügeln und eine kleine, aber gut ausgestattete Küche. Denn bevor sich die Dietrich von der Welt zurückzog, kochte sie gern, vor allem für ihre Freunde. Auch Hildegard Knef beschrieb Marlene Dietrich in Rivas Dokumentarfilm als fürsorglich: Marlene habe auf sie aufgepasst, wie ihre Mutter es nie getan habe.
Ihr Schlafzimmer hatte Dietrich so eingerichtet, dass sie dort leben konnte. Unter einem Beistelltisch standen Getränke, etwa Whisky, von dem sie täglich rund eine Flasche getrunken haben soll, wie ihre frühere Sekretärin mal sagte. Zu Dietrichs Nachlass gehörten auch eine Greifhilfe und Hunderte Bücher. Am Fuß ihres Bettes befanden sich der Rollstuhl, ein Fernseher und ein Telefon: Der wichtigste Gegenstand in diesen Jahren. Ihre einzige Verbindung zur Außenwelt.
»Sie hat telefoniert ohne Ende«, sagt Ronneburg. »Sie hatte zum Schluss horrende Telefonrechnungen.« Sie habe versucht, den Überblick zu behalten, etwa wenn Bücher über sie erschienen seien. »Dann hat sie sich das schicken lassen und keinen guten Faden daran gelassen.« Sie wollte auch nicht mehr fotografiert oder gefilmt werden.
Eingeschränkter Aktionsradius
Dietrich starb schließlich am 6. Mai 1992 in ihrer Wohnung. Nach Einschätzung ihrer Sekretärin hat sich der Star mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen. Wie Bosquet auch in einem Interview der französischen Nachrichtenagentur AFP sagte, habe sie zwei Tage zuvor einen Schlaganfall erlitten und hätte in ein Altersheim gemusst. Forscherin Ronneburg sieht das skeptischer. Ihre Tochter Maria habe einmal gesagt, der Tod sei nichts für die Dietrich gewesen. Möglicherweise habe sie den eigenen Tod wie auch das Alter weitgehend ausgeblendet.
In ihrem Terminkalender sei Anfang Mai 1992 vermerkt, dass sie eine Erkältung habe - nichts von Lebensmüdigkeit. Auch wenn Dietrichs Aktionsradius eingeschränkt gewesen sei, habe sie noch immer telefonierend, lesend, auch schreibend am Leben teilgenommen. Das passe nicht unbedingt zur Selbstmordthese, findet Ronneburg. »Wichtiger ist vielleicht, was von ihr bleibt, wie wir auch heute noch - 30 Jahre nach ihrem Tod - über sie sprechen und wie die nächsten Generationen sie wahrnehmen.«
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