»Das ist ein interessantes und ein komisches Gefühl zugleich«, sagt Christian Thielemann. Eigentlich wäre er jetzt wahrscheinlich längst auf dem Grünen Hügel von Bayreuth, würde dort proben und auch ein wenig residieren. Doch stattdessen sitzt er in einem Hotel in München, wo er sich auf Auftritte mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks vorbereitet und wagt nun einen Blick von außen auf Deutschlands berühmtestes Opernspektakel.
Denn ihm steht ein besonderer Sommer bevor - einer ohne Bayreuther Festspiele. Zum ersten Mal seit vielen Jahren ist der 64-Jährige nicht mehr dabei. »25 Jahre meines Lebens, genauer gesagt 25 Sommer, habe ich in Bayreuth verbracht, 22 Jahre davon habe ich selbst dirigiert, auch wenn man es mir nicht ansieht«, sagt er im Interview der Deutschen Presse-Agentur und lacht. »Und in diesen 22 Jahren habe ich 185 Aufführungen geleitet. Das ist schon eine Menge.«
»Nach «Lohengrin» war ein Höhepunkt erreicht«
»Eine sehr gute Bilanz«, sagt nicht nur er - und es klingt ein wenig abschließend, auch wenn er sagt, dass es so nicht gemeint sei. »Nein. Aber es kommt auf die Besetzung an. Auf Regisseure und vor allem auf die Sänger. Wenn sich da etwas ergibt, dann macht man das gern. Aber nachdem wir unseren fantastischen «Lohengrin» beendet hatten, war ein Höhepunkt erreicht.«
Es sei nicht so, dass ihm nichts angeboten worden sei - »aber ich musste zum ersten Mal in meinem Leben und schweren Herzens Nein dazu sagen«. Seine Dresdner Staatskapelle feiere nun einmal Geburtstag und da sei der Chef eben unabkömmlich.
Für 2024 ist derzeit auch nichts geplant auf dem Grünen Hügel mit Thielemann, der seinen Posten als Musikdirektor der Festspiele schon seit 2020 los ist. Von einem wie auch immer ausgestalteten offiziellen Posten auf dem Grünen Hügel ist schon länger nicht mehr wirklich die Rede.
Bayreuth-Debüt im Sommer 2000
Dabei war Bayreuth immer mehr als nur eine Arbeitsstätte für Thieleman. Der langjährige, 2010 gestorbene Festivalleiter Wolfgang Wagner war für ihn eher Ziehvater als Chef. Sein Bayreuth-Debüt gab Thielemann im Sommer 2000 mit den »Meistersingern von Nürnberg«. Seither hat er »die Festspiele alljährlich durch maßstabgebende Interpretationen geprägt«, wie es auf der Festspiel-Homepage heißt.
Er gilt als einer der besten Wagner-Interpreten der Welt und hat - mit einer Ausnahme im Jahr 2011 - in den vergangenen zwei Jahrzehnten kein Festspiel-Jahr ausgelassen. Thielemann ist erst der zweite Dirigent nach Felix Mottl (1856-1911), der alle zehn in Bayreuth aufgeführten Wagner-Opern auf dem Grünen Hügel dirigiert hat. 2010 wurde er musikalischer Berater der Festspiele und fünf Jahre später Musikdirektor.
Kritik an Thielemann: »eine Seifenblase«
Allerdings gab es immer auch Berichte darüber, Thielemann trete Dirigenten-Kollegen gegenüber eher undiplomatisch auf und werde dafür kritisiert, sich über Gebühr in deren Arbeit einzumischen.
Im vergangenen Jahr war der Star-Dirigent, der noch bis 2024 Chef der Staatskapelle Dresden und inzwischen als Nachfolger von Daniel Barenboim an der Berliner Staatsoper im Gespräch ist, wegen eines angeblich sehr rauen Umgangstons bei seiner Arbeit in Bayreuth in die Kritik geraten.
Er soll Musiker angeschrien und beleidigt haben - ein Vorwurf, den der Dirigent damals vehement zurückwies: »Da ist überhaupt nichts dran«, sagte er und sprach von einem »Missverständnis«.
»Das war schrecklich«, sagt er nun ein Jahr danach im dpa-Interview. »Zum Schluss war völlig klar, dass es sich um eine Seifenblase handelte, die schnell zerplatzt ist. Aber da sehen Sie mal, wie hysterisch manche Diskussionen geführt werden.« In vielen Häusern habe er »grenzwertige Situation mitbekommen, aber nichts von wirklichem Machtmissbrauch«, sagt Thielemann. »Das waren eher Probenkrach und Schreiereien.«
Bytschkow und Gatti statt Thielemann
Die Bayreuther Festspiele haben gewissermaßen Ersatz gefunden für Thielemann und holen in den kommenden Jahren die renommierten Dirigenten Semjon Bytschkow und Daniele Gatti. Bytschkow soll 2024 eine Neuinszenierung von »Tristan und Isolde« dirigieren, Gatti 2025 die »Meistersinger von Nürnberg«.
Mit Nathalie Stutzmann steht in diesem Jahr die zweite Frau in der Festspielgesichte dort am Pult - nach der Ukrainerin Oksana Lyniv, die 2021 ihr Hügel-Debüt gab. Welche Pläne es für das große Festspiel-Jubiläum 2026 gibt, ist noch unklar. Aber in Bayreuth scheinen neue Zeiten anzubrechen.
»Ich muss sagen, so ein Blick von außen auf Bayreuth tut auch mal ganz gut«, sagt Thielemann. »Jetzt sollen ruhig die anderen ran. Ich finde es sehr gut, dass da mal ganz frische Kräfte am Werk sind.«
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