Die Frankfurter Buchmesse ist mit dem Neustart nach zwei Jahren Corona-Einschränkungen zufrieden: »Die Besucherzahlen übertreffen unsere Erwartungen«, sagte Buchmessen-Direktor Juergen Boos am Freitag nach den ersten drei Messetagen. Mit rund 90.000 Fachbesucherinnen und -besuchern aus über 100 Ländern »ziehen wir eine positive Bilanz«, so Boos.
Früher als zuvor hatte die Buchmesse in diesem Jahr ihre Tore für das Lesepublikum geöffnet. Schon am Morgen durfte jeder, der wollte, aufs Messegelände. Es bildeten sich Schlangen vor den Eingängen, die Hallen füllten sich schnell. Viele Jahre war die Messe erst am Samstag für jedermann zugänglich, später hatten die Publikumstage am Freitagmittag begonnen. Anders als früher dürfen die Verlage inzwischen auch Bücher verkaufen. Bei den Publikums-, Kinder- und Comicverlagen bildeten sich am Nachmittag lange Schlangen.
Ein älteres Paar ist extra aus Berlin angereist, »um heute und morgen die Buchmesse wieder in vollen Zügen genießen zu können«, wie die Frau berichtete. Auch wenn es keine Maskenpflicht mehr gibt, trägt das Paar freiwillig Maske: »Da sind wir noch etwas vorsichtig.« Besonders freuten sie sich auf Abdulrazak Gurnah, den Literaturnobelpreisträger des vergangenen Jahres.
Dessen jüngster Roman »Nachleben« handelt vom deutschen Kolonialregime in Ostafrika. Gurnah (73) sagte, er überlasse es seinen Leserinnen und Lesern, sich eine Meinung über historische Ereignisse zu bilden. Sie seien intellektuell genug, um die Tragweite zu verstehen, sagte der von der Inselgruppe Sansibar in Tansania stammende Schriftsteller am Freitag auf dem »Blauen Sofa« der Buchmesse. Es liege nicht an ihm, das Geschehene zu verurteilen.
Schülergruppe freut sich über Luisa Neubauer
Auf Luisa Neubauer freute sich hingegen besonders eine Schülergruppe. Diese hatte die Erlaubnis ihrer Klassenlehrerin bekommen, auf die Buchmesse statt in die Schule zu gehen. »Letztes Jahr durften wir wegen der strengen Corona-Auflagen nicht kommen«, sagte einer der Schüler, diesmal sei es »viel entspannter«.
Neubauer (26) hat ein Buch mit ihrer Großmutter Dagmar Reemtsma geschrieben (»Gegen die Ohnmacht. Meine Großmutter, die Politik und ich«). Neubauer glaubt nach eigenen Worten nicht an einen Generationenkonflikt. »Meine Großmutter ist 89 und setzt sich mit aller Kraft dafür ein, dass eine Welt, die sie nie mehr erleben wird, lebenswert ist.« Es mache keinen Sinn, »darauf rumzureiten, wer jetzt was genau was nicht gemacht hat«, sagte Neubauer. »Viel eher geht's mir darum zu sagen: In keiner Lebensphase ist es zu spät für irgendwen, irgendwas zu tun.«
Bei der weltgrößten Bücherschau präsentieren 4000 Aussteller aus 95 Ländern ihre Neuerscheinungen. Die Messe findet derzeit wieder ohne größere Auflagen statt. Gastland ist Spanien. Die Messe endet am Sonntag mit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Ukrainer Serhij Zhadan.
»Auch während des Krieges muss Kultur eine Stimme haben«, sagte Zhadan bei der traditionellen Pressekonferenz vor dem Festakt. »Die Kultur darf nicht schweigen. Wenn die Kultur schweigt, wenn die Schriftsteller schweigen, wenn die Dichter schweigen, dann bedeutet das, dass die Angst gewonnen hat.«
Zhadan lebt im umkämpften Charkiw
Der Schriftsteller, Übersetzer und Musiker wurde im nun russisch besetzten Gebiet Luhansk geboren und lebt im umkämpften Charkiw. Auf die Frage, was ihm und anderen Ukrainern die Kraft gebe zu bleiben, antwortete Zhadan: »Vielleicht das Gefühl, dass die Wahrheit auf unserer Seite ist.«
Der Angriffskrieg auf die Ukraine ist für Zhadan nicht nur ein Krieg Putins: »Es ist in meinem Verständnis ganz klar ein Krieg Russlands gegen die Ukraine.« Putin sei nicht persönlich in den Orten gewesen, in denen Massaker verübt wurden, »das waren junge russische Männer«.
Politisch äußerte sich auch die deutsch-afghanische Journalistin Waslat Hasrat-Nazimi (»Die Löwinnen von Afghanistan«). Sie kritisierte, es sei in den vergangenen 20 Jahren viel zu wenig über die Situation in Afghanistan berichtet worden. »Und das ist auch heute noch ein Problem«, sagte sie mit Blick auf das spärliche Publikum bei einer Podiumsdiskussion.
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