Rot am See (dpa) - Um 12.48 Uhr geht am Freitag ein Anruf ein bei der Polizei. Ein junger Mann aus der kleinen Gemeinde Rot am See ist am Telefon. Er gibt an, mehrere Menschen erschossen zu haben. Die Beamten halten den Mann in der Leitung - und machen sich auf den Weg.
Neun Minuten später erreichen sie die Bahnhofstraße in dem Ort. Der Anrufer wartet bereits vor dem Haus, in dem er wohnt, ein zweistöckiges Sandsteingebäude. Er lässt sich ohne Widerstand festnehmen. Hinter dem Haus liegen vier Leichen. Im Gebäude liegen noch zwei weitere - und eine halbautomatische Kurzwaffe, neun Millimeter.
Rot am See liegt zwischen Crailsheim (Baden-Württemberg) und Rothenburg ob der Tauber (Bayern) und hat gerade mal knapp 5400 Einwohner. Jährlich im Oktober findet dort die »Muswiese« statt, einer der ältesten und größten Jahrmärkte in Hohenlohe. Ein blutiges Verbrechen reißt den Alltag in der idyllischen Gemeinde im fränkisch geprägten Nordosten Baden-Württembergs am Freitag aus den Fugen. Sechs Menschen sterben in Rot am See durch Schüsse. Zwei weitere werden verletzt - ein Opfer schwebte am Abend noch in Lebensgefahr.
»Zum Motiv können wir bis dato nichts sagen«, sagte der Aalener Polizeipräsident Reiner Möller am Nachmittag bei einer spontan anberaumten Pressekonferenz im Rathaus. In schwäbischem Stakkato trägt er den bisherigen Kenntnisstand zum Verbrechen vor. Der mutmaßliche Täter ist offenbar Sohn der Wirtsfamilie, 26 Jahre alt, deutsch, hat eine Waffenbesitzkarte, soll nach aktuellem Stand Sportschütze sein. Sehr viel mehr können die Beamten noch nicht sagen. Er war offenbar gefasst bei seinem Anruf. Der Polizeipräsident spricht von einem »geordneten Gespräch«.
Der Mann wohnte in dem Gebäude, ebenso wie ein Teil der Familie. Die Opfer sind drei Frauen im Alter von 36, 56 und 62 Jahren und drei Männer im Alter von 36, 65 und 69 Jahren. Alle Opfer und der mutmaßliche Täter waren den Angaben zufolge verwandt. Der Mann hat noch zwei Jugendliche im Alter von 12 und 14 Jahren bedroht, die sich im Gebäude befanden und auch zur Verwandtschaft gehören sollen.
Am Freitagnachmittag bestimmt der Anblick von Polizeiwagen den kleinen Ort. Mehr als hundert Beamte sind im Einsatz. In der Bahnhofstraße ist es nach den Schüssen zunächst ganz ruhig, fast gespenstisch still. Es ist klirrend kalt, die Wintersonne scheint freundlich auf die Wohnhäuser. In der Mitte der Straße hängt ein rot-weißes Absperrband.
Vor der Gaststätte stehen rund ein Dutzend uniformierte Polizisten und pusten sich die Kälte aus den Händen. Spurensicherer in weißen Anzügen gehen in die Kneipe. Vor dem Haus sprühen Beamte gelbe Striche auf die Straße. Auf einem Fenstersims der Gaststätte liegt ein Telefon, das ab und an laut klingelt. Das Telefon des mutmaßlichen Schützen?
Ein Nachbar sagt, er habe beim Lesen im Wohnzimmer drei Schüsse gehört. »Dann sind nach einer Weile viele weitere Schüsse gefallen.« Er habe die Familie flüchtig gekannt. »Wir haben uns auf der Straße gegrüßt.« Das Gasthaus sei eine Zeit lang geschlossen gewesen und habe nach der Renovierung der Kegelbahn wieder geöffnet. Die Tat sei ihm unbegreiflich.
Auch die Verkäuferin einer Metzgerei im Ort sagt, sie habe den Gastwirt gekannt. Das Gasthaus sei ein alteingesessenes Wirtshaus, habe aber inzwischen nur gelegentlich geöffnet und sei vor allem eine Stammkneipe der Spieler des örtlichen Fußballvereins. Die Wirtsleute hätten zusammen einen gemeinsamen Sohn gehabt, die Frau noch weitere Kinder aus einer ersten Ehe. »Ich kann das noch gar nicht glauben«, sagt die Verkäuferin.
Ein 19-Jähriger kommt am Freitag extra aus einer Nachbargemeinde an den Tatort, um den Einsatz zu verfolgen. »Hier sind eigentlich alle cool drauf. Und eigentlich leben hier viele ältere Menschen. Vielleicht gab es Streitigkeiten in der Familie.« Eine Frau, die schon lange in der Gemeinde lebt, sagt: »Jetzt wird Rot am See bekannt - aber auf scheußliche Art.«
Die Beamten erhoffen sich nun von der Aussage des 26-Jährigen mehr Erkenntnisse. Bis Freitagabend mussten sie allerdings noch auf den Anwalt des Mannes warten, um mit der Befragung zu beginnen. Am Samstag soll der Mann dem Haftrichter vorgeführt werden.