London (dpa) - Ist die Nato krank? Und wenn ja, wie krank? Die »Hirntod«-Äußerungen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron führen seit Wochen innerhalb und außerhalb des Militärbündnisses zu hitzigen Debatten.
Nun steht der Jubiläumsgipfel zum 70-jährigen Bestehen der Allianz an. Wird es bei der Arbeitssitzung an diesem Mittwoch einen neuen Eklat geben? Zeit für einen Gesundheitscheck:
Beunruhigende Symptome
Macron kritisiert, dass Bündnispartner wie die USA und die Türkei in sicherheitspolitisch relevanten Fragen fragwürdige Alleingänge unternehmen. Ein Negativ-Beispiel ist für ihn die Militäroffensive der Türkei in Nordsyrien, die innerhalb der Nato nicht abgesprochen war und erst durch einen ebenfalls nicht abgesprochenen Rückzug von US-Soldaten aus dem Gebiet möglich wurde. Beides könnte dazu führen, dass Mitglieder der Terrormiliz Islamischen Staates (IS) wieder in die Lage versetzt werden, Anschläge in Europa zu verüben.
Weitere Indizien für eine angeschlagene Gesundheit sind Streitigkeiten, die die Nato direkt betreffen. So blockierte die Türkei zuletzt eine Weiterentwicklung von Verteidigungsplänen für Osteuropa, um im Gegenzug mehr Unterstützung von Bündnispartnern im Kampf gegen militante Anhänger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu bekommen. Zu den Konfliktthemen zählen auch die aus US-Sicht zu niedrigen Verteidigungsausgaben von Ländern wie Deutschland, der Kauf eines russischen Luftabwehrsystems durch die Türkei und die US-Erwägungen, einen großen Teil der amerikanischen Soldaten aus Afghanistan abzuziehen.
Blick zurück in die Patientenakte
Alleingänge und Streit erlebt die Nato nicht zum ersten Mal. Ob der Irak, Libyen oder zuletzt Afghanistan: Unter den Bündnispartnern gab es immer wieder grundlegende Differenzen über Militärinterventionen. Beim Irakkrieg, der 2003 begann, machten beispielsweise nach einer US-Bitte die Briten mit, Deutschland und Frankreich sagten aber Nein. Nicht zu vergessen sind auch die Suez-Krise 1956 und der erst 2009 wieder rückgängig gemachte Austritt Frankreichs aus den Militärstrukturen der Nato im Jahr 1966.
In der Suez-Krise hatten die USA auf der einen sowie Frankreich und Großbritannien auf der anderen Seite darüber gestritten, wie auf die Verstaatlichung der Wasserstraße durch den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser reagiert werden sollte. Französische und britische Truppen starteten damals eine Militärintervention, die jedoch unter dem Druck der USA wieder gestoppt werden musste.
Mit dem Austritt aus der Militärstruktur der Nato reagierte Frankreich 1966 unter dem damaligen Präsidenten Charles de Gaulle auf die seiner Ansicht nach zu große Übermacht der USA im Bündnis. Schon damals war es Frankreichs Ziel, die europäische Verteidigungsarchitektur zu stärken.
Die Diagnose und ihre Bewertung
Mit seiner Hirntod-Diagnose ist Macron innerhalb der Nato isoliert. Die drastische Wortwahl des Franzosen legt nahe, dass das Bündnis nicht mehr zu retten ist. Wenn ein Arzt bei einem Patienten den Hirntod feststellt, arbeiten wichtige Teile des Gehirns nicht mehr und seine Funktionsfähigkeit ist für immer verloren. Das Herz-Kreislauf-System kann nur noch mit künstlicher Hilfe aufrecht erhalten werden - zum Beispiel um Organe verpflanzen zu können.
Groß ist der Frust von Nato-Partnern aber nicht nur, weil sie seine Analyse nicht teilen, sondern auch, weil die Äußerungen dem Bündnis erheblichen Schaden zufügen. Die Nato funktioniert nämlich nur, wenn mögliche Gegner wirklich befürchten müssen, dass die Alliierten einander im Fall eines Angriff bedingungslos zur Seite stehen. An dem Prinzip der kollektiven Selbstverteidigung, das in Artikel 5 des Nato-Vertrags verankert ist, hat Macron nun Zweifel geweckt.
Bei Gipfeln wie diesem in London gilt es als besonders wichtig, zumindest öffentlich Geschlossenheit zu demonstrieren. Macron versuchte zuletzt klarzustellen, dass er seine Diagnose vor allem als Weckruf verstanden sehen will.
Der Therapie-Vorschlag
Um Sachlichkeit in den Streit zu bringen, schlug Bundesaußenminister Heiko Maas die Einberufung einer Expertenkommission unter Leitung von Generalsekretär Jens Stoltenberg vor. Sie könnte bis zum nächsten Gipfel im Jahr 2021 Vorschläge zur Stärkung der politischen Zusammenarbeit erarbeiten. In der für den Jubiläumsgipfel geplanten Abschlusserklärung ist nun allerdings nur vage vom Start eines Reflexionsprozesses die Rede.
Nach Angaben aus Nato-Kreisen waren mehrere Alliierte der Ansicht, dass die sofortige Einsetzung einer Expertenkommission als Eingeständnis ernsthafter Probleme und als Zugeständnis an Macron gewertet hätte werden könnte. Zudem gibt es auch grundsätzliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Vorstoßes. Dagegen spricht demnach, dass sich niemand wirklich vorstellen kann, wie US-Präsident Donald Trump oder der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zu einer stärkeren Koordinierung gebracht werden sollen. Der Austausch über strategisch wichtige Themen ist schon heute mehrmals in der Woche bei Sitzungen des Nato-Rats auf Botschafterebene möglich.
Wie groß ist die Lebenserwartung denn jetzt noch?
Solange die USA als mächtigste Militärmacht der Welt an der Nato festhalten, dürfte sich das Bündnis keine Existenzsorgen machen müssen. Dass sich Trump zuletzt immer wieder zur Nato bekannte, hat viele osteuropäische Partner beruhigt. Selbst wenn sich Frankreich aus Frust über die Politik von Alliierten ganz oder teilweise zurückziehen sollte, wäre die Nato wohl nicht bedroht. Der Hauptzweck der Allianz besteht darin, mögliche Gegner vor einem Angriff abzuhalten. Diese Abschreckung wäre auch ohne Frankreich möglich.
Alles ändern könnte allerdings, wenn die Amerikaner ihr Interesse am Bündnis verlieren sollten. Zum Beispiel, weil die »geschäftliche Seite« nicht mehr stimmt. Die Amerikaner setzen nämlich darauf, dass viele Alliierte Waffen und andere Rüstungsgüter in den USA kaufen - auch als Dankeschön dafür, dass die USA sie unter ihren nuklearen Schutzschirm aufgenommen haben.
Wie unberechenbar die USA unter Trump sind, hat sich mehrfach gezeigt. Der Republikaner bezeichnete die Nato als obsolet, stellte das Beistandsprinzip infrage und drohte aus Verärgerung über die seiner Meinung nach zu geringen Verteidigungsausgaben von Ländern wie Deutschland sogar mit einem Rückzug der USA aus dem Bündnis.