Es ist die Mühle, die einst den beiden Schwestern Marie und Klara Walz gehörte. Jetzt darf Gunter Heinzmann die drei Häuser und die Kapelle an der Lauchert zwischen Stetten und Hörschwag sein Eigen nennen. Vor zwei Jahren hat er das Anwesen gekauft. Der Reutlinger ist fasziniert von diesem Fleckchen Erde zwischen Bach und Wald und der Geschichte, die hier lebendig wird.
Deshalb haben er und seine Eltern vieles einfach so gelassen, »aber auch schon sehr viel weggeräumt«, sagt Heinzmann. Das war vor allem altes Holz, das um die Mühle herum lagerte, aber auch andere Sachen, wie eingekochter Johannisbeersaft, den die neuen Besitzer in rauen Mengen in der Mühle fanden. Begeistert führen Gunter Heinzmann und sein Vater Willi den Besucher durch das Haupthaus.
Am Eingang sticht das Jahr 1789 ins Auge, das über dem Tor eingeritzt ist. Der damalige Besitzer Christ Locher verewigte es im Stein, weil er im Jahr der Französischen Revolution das Gebäude renovierte. In der Mühle dann ist erst nicht viel zu sehen, dafür riecht man umso mehr: Es ist modrig, feucht, irgendwie stickig. Langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit. In einem ungewöhnlich hohen Raum stehen mehrere Mahlmühlen, die einst das Korn unterschiedlich fein zerrieben.
Über eine steile Treppe geht es hinauf in die Wohnung. Wie muss es für die Schwestern gewesen sein, im hohen Alter die schweren Wassereimer und Holzkörbe die vielen Stufen nach oben zu tragen? Denn in der Küche gibt es zwar ein Spülbecken, aber keinen Wasserhahn. In der anderen Ecke steht ein großer Herd, aber auch der stammt aus einem anderen Jahrhundert: Er wärmte Essen, Bewohner und Hausschuhe in der offenen Ofentür nur, wenn ein Feuer in ihm brannte.
Fast hat man das Gefühl, als wären die beiden Schwestern nur kurz außer Haus und kämen jeden Augenblick zurück. Da steht die schwere Pfanne auf dem Holzofen. Öffnet man das Türchen, entdeckt man sogar noch die Asche längst verbrannter Holzscheite. Hinter der Küchentüre stehen alte, aber zum Teil nagelneue Schuhe. Im alten, großen Küchenbuffet findet sich alles, was ein Haushalt braucht. Nur noch selten sieht man solch geblümte Tassen – das Butterfass ist sicherlich in keinem Haushalt mehr zu finden.
Wer in dieser Küche steht, kann nur erahnen, wie anders das Leben war, als Marie und Klara Mädchen und junge Frauen waren. Marie wurde 1915 geboren, Klara neun Jahre später. Sie hatten sechs Geschwister, zwei davon starben im Kindesalter, zwei Schwestern haben die Mühle verlassen, zwei Brüder sind im Krieg gefallen. Vater Konstantin starb 1925 durch einen Unfall an der Säge. Ein tragischer Einschnitt in das Leben der großen Familie. Von da an mussten alle Kinder mithelfen, besonders die Buben. 1941 dann der nächste Schlag: Beide Brüder müssen in den Krieg – und kommen nie wieder heim.
Von da an sind es vor allem Marie und Klara, die daheim helfen, Holz für die Kunden sägen, die Hühner und Kühe versorgen, Gras mähen. Immer in der Hoffnung, dass die Brüder, oder wenigsten einer, wieder heimkehren. Erhalten wollten sie die Sägemühle, damit die Geschwister nach dem Krieg noch Heimat und Einkommen haben.
Drüben in der Wohnstube hängen Fotos der beiden von den Frauen so schmerzlich vermissten Brüdern und der ganzen Familie. In der anderen Ecke des Zimmers ist ein Herrgottswinkel: Maria mit dem Jesuskind, mehrere Kruzifixe, eine Bibel. Fasziniert und berührt ist nicht nur der Besucher, sondern auch Willi Heinzmann: »Die Menschen heute können sich gar nicht mehr vorstellen, wie wir nach dem Krieg aufgewachsen sind«, sagt der 76-Jährige bewegt. Offenbar fühlt er sich an seine eigene Kindheit erinnert und möchte, dass diese Zeit nicht in Vergessenheit gerät.
Mit diesem Wunsch steht der Vater nicht alleine da. Auch Sohn Gunter Heinzmann würde sowohl die Mahl- als auch die Sägemühle, die in einem Schuppen neben dem Wohnhaus untergebracht ist, gerne als Schaumühlen herrichten. Und ein Café schwebt ihm vor. »Schließlich kommen an der Mühle viele Fahrradfahrer und Wanderer vorbei«, sagt der 45-Jährige.
Doch das ist bisher ein Traum. »Gerade ist das Denkmalamt dabei, den Ist-Zustand der Mühle aufzunehmen«, erläutert der umtriebige Mann. Erst danach könne festgestellt werden, was Heinzmann mit den teils recht mitgenommenen Gebäuden überhaupt machen darf. Bis dahin entdecken er und seine Eltern die Walzmühle und die bis jetzt verborgenen Raritäten. Da kommen riesige Schlüpfer zum Vorschein, ein Taufkleidchen, das um die 90 Jahre alt sein dürfte, und Kittelschürzen.
Sparsam haben die beiden Schwestern gelebt, doch wie sparsam, das wird erst klar, wenn im letzten Zimmer die Schranktüren aufgehen: Wintermäntel und Sonntagskleider, kaum getragen, Unterwäsche noch originalverpackt ebenso Bettlaken und -wäsche. Der Besucher fragt sich, warum die Schwestern ihre Kleider, die sie jeden Tag trugen, immer wieder geflickt haben und sich nicht auch mal eine neue Kittelschürze gönnten. Doch Willi Heinzmann kennt den Gedanken dahinter: Nach dem Krieg habe es an allem gemangelt, man achtete auf die guten Kleider, die Sonntagskleider, holten sie nur zum Gottesdienst oder für eine Wallfahrt aus dem Schrank.
Wer den Dokumentarfilm (»Der Herrgott weiß, was mit uns geschieht«, 1999) über die Albschwestern gesehen hat, der kennt die Einstellung der letzten Bewohner der Mühle, die 1406 erstmals erwähnt wurde: Das bisschen Strom, das vom Mühlrad produziert wird, und die Lampe in der Küche flackern lässt, reicht völlig. Einen Fernseher brauchen sie nicht, ebenso wenig ein Badezimmer oder fließendes Wasser. Nur gesund wollen sie bleiben, damit sie ihr Tagwerk verrichten können.
Zumindest für eine ging der Wunsch in Erfüllung: Marie stirbt 85-jährig im Sommer 2001 dort, wo sie immer war – zu Hause in der Mühle. Klara trifft das hart. Noch einige Zeit kann sie die Mühle betreiben, nimmt noch kleinere Aufträge in ihrer Lohnsägerei entgegen. Doch irgendwann geht es nicht mehr. Sie zieht ins Altersheim, wo sie bis heute lebt. Die Mühle steht sechs Jahre leer, dann übernimmt sie Gunter Heinzmann.
»Ich möchte in einem erlebbaren Museum zeigen, wie die Mühlen funktioniert haben«, sagt Heinzmann. Er will öffentlich machen, was für viele heutzutage sicher unvorstellbar ist: wie Menschen lebten und arbeiteten. In einer Zeit, die noch gar nicht so lange zurückliegt. (GEA)