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VfB Stuttgart: Ist Atakan Karazor der meist unterschätzte Sechser in der Liga?

Die Erfolgswelle beim VfB Stuttgart ist eng mit den Namen Guirassy, Undav, Führich, Anton oder auch Mittelstädt verbunden. Ein Akteur gerät dabei häufig in Vergessenheit: Mittelfeldspieler Atakan Karazor. Ist der 27-Jährige womöglich der unterschätzteste Sechser in der ganzen Bundesliga? Ein Datenexperte liefert spannende Antworten.

Meist unspektakulär und doch unverzichtbar beim VfB Stuttgart: Mittelfeldspieler Atakan Karazor.
Meist unspektakulär und doch unverzichtbar beim VfB Stuttgart: Mittelfeldspieler Atakan Karazor. Foto: Eibner-Pressefoto/Michael Weber
Meist unspektakulär und doch unverzichtbar beim VfB Stuttgart: Mittelfeldspieler Atakan Karazor.
Foto: Eibner-Pressefoto/Michael Weber

STUTTGART. Serhou Guirassy, Deniz Undav, Chris Führich, Waldemar Anton, Enzo Millot oder auch Maximilian Mittelstädt: Wenn der VfB Stuttgart in der Bundesliga mal wieder für mächtig Wirbel sorgt, seine Gegner reihenweise auseinander seziert und eine Traumkombination nach der anderen folgen lässt, dann hat fast immer einer aus diesem Sextett seine Füße im Spiel. In der öffentlichen Wahrnehmung findet vor allem ein Akteur selten Beachtung: Atakan Karazor, seines Zeichens Chef in der Stuttgarter Mittelfeldzentrale. Der 27-Jährige, der 2019 von Zweitligist Holstein Kiel nach Bad Cannstatt wechselte, stand bis auf eine Partie (Gelbsperre) immer in der Startelf, agiert Woche für Woche extrem abgezockt, zugleich aber meist unspektakulär und hält den Laden an der Seite mit Angelo Stiller im zentralen Mittelfeld zusammen.

»Das ist für einen Spieler, der von vielen oft nur als Zerstörer angesehen wurde, extrem viel und zeigt seinen immensen Wert im Ballbesitz-Spiel unter Trainer Hoeneß«

Es stellt sich langsam aber sicher die Frage: Ist Karazor der unterschätzteste Sechser in der Bundesliga? Quirin Sterr, der Mitgründer der Fußballconsultancy Create Football, die mit datenbasierten Analysen national wie international Proficlubs wie zum Beispiel den VfL Bochum sowei Berateragenturen beraten, aber auch Medienanstalten wie Sky und ARD/ZDF mit Informationen beliefern, klärt auf. Wichtig: Die Statistiken, angegebenen Daten und Vergleichswerte beziehen sich immer auf die Bundesliga.

- Mit dem Ball:
Zum Start ein kleiner Negativpunkt. Karazor ist und wird kein Tempospieler mehr. Mit einem Topspeed von lediglich 30,7 km/h zählt er zum unteren Drittel der Liga. Zudem überbrücken nur vier zentrale Mittelfeldspieler pro 90 Minuten weniger Strecke mit hochintensiven Läufen über 20 km/h. Interessant und ungewöhnlich: Prozentual läuft der VfB-Profi deutlich mehr, wenn das eigene Team den Ball hat.

Dieser Fakt liegt auch daran, dass Karazor fast immer anspielbar ist, was auch im von Trainer Sebastian Hoeneß zelebrierten Positionsspiel seine Ursache findet. Kein Sechser schafft so viele Laufangebote wie der gebürtige Essener, der die Kugel zudem in rund 75 Situationen pro Spiel am Fuß hat. Starke 90 Prozent seiner Anspiele landen dabei beim eigenen Mitspieler. Der durchschnittliche Wert seiner Positionskollegen in der Bundesliga liegt bei 84 Prozent. Datenexperte Sterr ordnet ein: »75 Ballaktionen sind für einen Spieler, der von vielen oft nur als Zerstörer angesehen wurde, extrem viel und zeigt seinen immensen Wert im Ballbesitz-Spiel unter Hoeneß.«

»Er hält sein Spiel bewusst einfach und schafft es damit, Ruhe reinzubringen sowie die Ballkontrolle zu wahren«

Gleichzeitig bekommt er von seinen Teamkollegen aber nur wenige Läufe in die Tiefe angeboten. Weil sie wissen, dass der 27-Jährige nicht über die Fertigkeiten verfügt, diese präzise in Szene zu setzen. Karazor wagt fast keine schwierigen oder risikoreichen Anspiele. Nur sieben zentrale Mittelfeldspieler spielen noch kürzere Pässe. »Er hält sein Spiel bewusst einfach und schafft es damit, Ruhe reinzubringen sowie die Ballkontrolle zu wahren«, sagt Sterr. 38 Prozent von Karazors Anspiele sind Querpässe, nur knapp jeden vierten Pass spielt er in Richtung des gegnerischen Tores. »Wenn er diese vertikale Pässe spielt, zum Beispiel leichte Anspiele in den Halbraum, sind sie dennoch äußerst präzise«, lobt der Create-Football-Mitgründer. Vereinfacht gesagt: Im Spielaufbau des VfB ist Karazor meist die erste Anspielstation für die Abwehrkette, legt in der Folge häufig quer zu Nebenmann Stiller, der als tiefer Spielmacher agiert und die Angriffe dann einleitet.

Karazors größter Pluspunkt? »Er ist unglaublich pressingresistent«, sagt Sterr. Nur sechs zentrale Mittelfeldspieler können den Ball unter hohem Gegnerdruck häufiger behaupten. Der Stuttgarter Sechser leistet sich pro 90 Minuten nur vier Ballverluste und gehört damit zur Creme de la Creme der Bundesliga. Erstaunlich ist diese geringe Fehlerquote vor allem deshalb, weil Karazor unter den 20 Prozent der zentralen Mittelfeldspieler liegt, die am häufigsten von den Gegenspielern gepresst werden. Das Gleiche gilt für Stiller. »Sie stehen unter ständigem Gegnerdruck. Das macht die extrem guten Leistungen in Ballbesitz nochmals deutlich bemerkenswerter«, analysiert der Datenexperte.

- Gegen den Ball:
Karazor fokussiert sich in der Verteidigung auf eine zentrale und absichernde Rolle vor der Abwehrkette, agiert dabei aber alles andere als zurückhaltend. Mit einer Erfolgsquote von 66 Prozent am Boden gehört er zu den besten Zweikämpfern der Liga und räumt auch in der Luft mit seiner Körpergröße von 1,91 Metern auf. Mit 55 Prozent gewonnener Luftduellen liegt Karazor in dieser Statistik ganze zwölf Prozentpunkte vor dem Durchschnittswert seiner Positionskollegen. Auffällig und zugleich bemerkenswert: Der 27-Jährige kann trotz seines geringen Tempos häufig Läufe und Dribblings der Gegenspieler stoppen. Auch hier liegt der Stuttgarter Mittelfeld-Taktgeber deutlich vor seinen Konkurrenten (63 zu 46 Prozent gestoppter Dribblings). Das gelingt ihm in der Regel ohne Foul, immer wieder leitet Karazor in diesen Situationen im Anschluss gefährliche Konter per kurzem Pass ein.

- Das Fazit:
Zurück zur Ausgangsfrage. »Ja, Atakan Karazor ist definitiv der unterschätzteste Sechser in der Bundesliga. Aktuell kann man ihn sogar als einen der komplettesten und formstärksten Sechser in den Top-Fünf-Ligen bezeichnen. Er hat sich seit der Ankunft von Hoeneß im Spiel mit dem Ball noch einmal deutlich verbessert und zeigt sich von einer neuen, spielstarken Seite «, betont Sterr. Sowohl Karazors Fertigkeiten in der Balleroberung und Raumverteidigung, mit denen er viel Druck von Stiller und der Abwehrkette nehme, aber auch die hohe Qualität in Ballbesitz würden ein sehr rundes und komplettes Paket bilden, dass »maximal Leverkusens Granit Xhaka als Sechser noch toppen kann«. Gleichzeitig schlägt der Create-Football-Gründer den Bogen zum großen, kriselnden FC Bayern und der ewigen Debatte um die »Holding Six«.

»Das Stuttgarter Sechser-Paar Karazor/Stiller passt perfekt. Sie ergänzen sich ideal«

»Gerade diese Rolle eines beruhigenden Sechsers wollte Thomas Tuchel in München besetzen, um damit eine ähnliche Situation zu schaffen beim VfB, bei dem Karazor für Stiller arbeitet. So muss Joshua Kimmich weiterhin sowohl als Sechser gegen den Ball aber auch als tiefer Spielmacher agieren«, sagt Sterr. An dieser Stelle bringt der internationale Datenexperte den Stuttgarter ins Spiel. »Mit einem Spielertypen wie Karazor neben sich, könnte Kimmich mit weniger Gegnerdruck den Fokus mehr auf den Spielaufbau legen und die Angriffe der Bayern mit mehr Qualität einleiten.«? Bezogen auf den VfB Stuttgart bedeutet das? »Das Stuttgarter Sechser-Paar Karazor/Stiller passt perfekt, weil sie sich sowohl mit als auch gegen den Ball unterstützen und deren Fertigkeiten sich ideal ergänzen«, sagt der Experte abschließend. (GEA)